Technisch ist der Sachverhalt nüchtern: „Volatilität ist die Schwankungsintensität um einen Mittelwert“, sagt Michael Kreibich, Leiter Consulting Solutions bei Berenberg. „Wenn man es praxisnah formulieren möchte, würde man sagen, dass Volatilität nichts anderes ist als ein Ausdruck von Unsicherheit.“ Neue, zuvor unbekannte Informationen bringen Unsicherheit im Marktkontext – etwa in Form einer beginnenden Pandemie oder eines Krieges. „Diese neuen Informationen werden von den Kapitalmärkten über alle Anlageklassen hinweg in den Kursen verarbeitet. Diese Preisanpassungen führen zu Kursschwankungen – dies wiederum ist nichts anderes als Volatilität.“
„Es ist wichtig zu verstehen, was im Worst Case passieren kann.“
Michael Kreibich, Berenberg
Anders als die Emotionalität nahelegt, mit der das Thema diskutiert wird, geht Volatilität in beide Richtungen. Dass der Weg nach unten für mehr Aufsehen sorgt, liege daran, dass es sich häufig um eine Abweichung von einem langfristig positiven Trend handelt. So tendieren insbesondere Aktienmärkte historisch dazu, langfristig zu steigen. „Negative Abweichungen haben damit im Regelfall schlicht einen größeren Effekt auf die Volatilität als positive“, sagt Kreibich.
Das Bild vom sicheren Hafen ist vermutlich so alt wie die Börse selbst. Doch Volatilität betrifft grundsätzlich alle Assetklassen und Anlagevehikel, so Kreibich – die Frage ist nur, ob sie sich auch rechnerisch niederschlägt bzw. „wie hoch die Frequenz meiner Rendite ist“. In den elektronisch gesteuerten Hochfrequenzmärkten der Gegenwart wird jede Nachricht sofort aufgenommen und in die Preise liquider Assets einberechnet. In Zeiten, als das reale Börsenparkett noch Ort des Geschehens war, bestand eine entsprechende Verzögerung. Für illiquide Anlageklassen wie physische Immobilien gelten auch heute noch andere Regeln.
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Schwankungsindex
Bei der Betrachtung von weltweiter Marktvolatilität ist der Volatility Index (VIX) der Terminbörse Chicago Board Options Exchange (CBOE) ein häufig diskutierter Indikator. Der VIX misst die Optionen auf den Standard and Poor’s 500, der die etwa 500 größten US-Unternehmen umfasst. Hierbei werden die Absicherungen der kommenden 30 Tage betrachtet, mit denen Investoren sich gegen Schwankungen schützen wollen. Der VIX selbst wiederum ist mit Optionen und Futures handelbar. Mit VSTOXX und VDAX existieren auch Volatilitätsindizes für Eurostoxx 50 und Dax 40.
So kann es vorkommen, dass an Anlagen, die nicht täglich bewertet werden, ein kurzfristiger Einbruch schlicht vorübergeht: „Bei einem geschlossenen Fonds, dessen Wertstellung lediglich einmal im Quartal erfolgt, könnte sich ein Verlust mit darauf folgender Recovery im Einzelfall nicht in der Wertentwicklung niederschlagen“, sagt Kreibich und erinnert an die V-förmige Struktur des Corona-Crashs und dessen Erholung.
Transparenz als Vor- und Nachteil
Aktuelle Wertstellungen haben Vor- und Nachteile: Kein Preis bedeutet weniger Klarheit über den Assetwert. Immobilienverkäufer, die in einem der größten Zinsanstiege der letzten Jahrzehnte alte Preisvorstellungen formuliert haben, können ein Lied davon singen: Auch wenn die Zahlen in den einschlägigen Plattformen stehen, werden sie noch lange nicht gezahlt. Ein weiterer Preis der geringen Schwankung durch Illiquidität ist die fehlende Reaktionsmöglichkeit. „Immobilien spielen bei Stiftungen in Deutschland, je nach Kapitalvolumen, eine bedeutende Rolle, weil sie nicht unmittelbar von der Kapitalmarktentwicklung betroffen sind“, sagt York Asche, Stiftungsspezialist bei der Bethmann Bank. „Allerdings hängen sie mittelbar am Zinsniveau, und wenn es wirtschaftliche Verwerfungen gibt, aufgrund derer einige Mieter nicht mehr zahlen können, brechen die Erträge weg.“ Dann zu kündigen, ist für Stiftungen generell heikel. „Das steht morgen in der Zeitung.“
Auf der Habenseite dieser Trägheit steht, dass sie eine Ansteckung verhindern beziehungsweise verzögern kann. „Nicht nur Volatilität wird durch Unsicherheit ausgelöst – auch Volatilität selbst kann Unsicherheit auslösen oder verstärken“, sagt Kreibich. Märkte tendieren zu übertreiben – in beide Richtungen.
Angesichts der Datenunterschiede hinken manche Vergleiche. „Ich muss mir als Investor im Klaren sein, dass Volatilität als Risikomaß unterschiedlichen Herausforderungen unterworfen ist“, sagt Kreibich. Unterschiede in Frequenz und Bewertungsverfahren innerhalb einer Zeitreihe schränkten die Vergleichbarkeit ein. Überhaupt ist das Risikomaß Volatilität nicht immer eindeutig zu interpretieren: „Sie gibt wenig Informationen zu Extremereignissen. Wenn ich mir eine sehr langfristige Zeitreihe anschaue, die eine niedrige Volatilität aufweist, kann es trotzdem einige wenige, aber dafür erhebliche Verluste in der Vergangenheit gegeben haben – welche sich aber in der über den gesamten Zeitraum berechneten Kennzahl mathematisch nur geringfügig niederschlagen.“
Deshalb sei es wichtig, auch auf andere Größen zu schauen, etwa den Drawdown. „Es sollte nicht nur der gängige Maximum Drawdown sein. Sinnvoller ist es, sich die drei oder fünf größten Drawdowns in der Historie anschauen. Darüber lassen sich bereits viele Informationen über das zugrunde liegende Risikoprofil der Anlageklasse gewinnen“, sagt Kreibich. Eine weitere Kennzahl, die deutlich intuitiver ist, sei der Value-at-Risk. „Er gibt den maximalen Verlust über einen bestimmten Zeitraum bei gegebener Wahrscheinlichkeit aus“, sagt Kreibich. „Dies können viele Stiftungen häufig besser interpretieren als die durchschnittliche Schwankungsintensität.“
„Die Aufsicht ist eine Rechts- und keine Fachaufsicht und darf daher Anlagelösungen weder verbieten noch empfehlen.“
York Asche, Bethmann Bank
Die Bedeutung solcher Faktoren fällt je nach Investor unterschiedlich aus. „Wir reden hier vom Spannungsfeld zwischen langfristiger Kapitalanlage und kurzfristigen Berichts- und Bilanzierungsvorschriften“, sagt Kreibich. „Stiftungen haben grundsätzlich einen sehr langfristigen Anlagehorizont und sind somit in der Lage, Risiken auszuhalten bzw. kurzfristige Schwankungen in Kauf zu nehmen.“ Demgegenüber stehen die Berichtspflichten.
Wie viel Volatilität ist also das richtige Maß? „Es muss passen“, sagt York Asche. „Es geht darum, was eine Stiftung für die Erfüllung ihrer Zwecke braucht. Stiftungen können so viel Risiko gehen, wie sie müssen – aber eben nicht mehr als nötig.“ Das Müssen wird von Stiftungszweck und langfristigem Kapitalerhalt umrissen.
Herantasten an den richtigen Mix
Häufig sei der Weg hin zum optimalen Portfolio einer des Herantastens, sagt Michael Kreibich – auch wenn die Basis für die Strategische Asset Allocation komplexe finanzmathematische Modelle bilden. „Hierbei ist es auch wichtig zu verstehen, was damit im Worst Case passieren kann.“ Dazu betrachte man unter anderem Szenarioanalysen. „Wenn man ehrlich zu sich ist und sagen kann, dass man in den verschiedenen aufgezeigten Stressphasen die Nerven bewahrt hätte, dann ist es wahrscheinlich, dass man auch zukünftig seiner Investmentstrategie treu bleibt. Das ist ein entscheidender Schlüssel zum langfristigen Anlagehorizont.“
In der Praxis stellt sich die Lage nicht immer so systematisch dar. Hier überlagern Asches Erfahrung nach mitunter persönliche Präferenzen der Gremienmitglieder die Notwendigkeiten, teilweise auch mangelndes Wissen. „Ich habe alles erlebt – von vermeintlich mündelsicheren Festgeldanlagen und hohen Goldanteilen bis zu 100 Prozent Aktien“, sagt Asche und erinnert sich an eine mildtägige Stiftung, die zu Beginn der Negativzinsphase eine Viertelmillion Euro in Cash hielt. „ Der Vorstand erklärte, man habe den Beschluss gefasst, keine Anlage zu machen, weil es ja keine Zinsen gebe. Es war offenbar nicht bekannt, dass das nach dem Hamburger Stiftungsgesetz nicht zulässig ist. Stiftungen müssen anlegen – und ein Konto mit 0,01 Prozent Verzinsung ist keine Anlage.“
Solche Extremfälle, bei denen Vorstände bereit sind, sehenden Auges Inflationsverluste in Kauf zu nehmen, um Schwankungen und Risiken zu vermeiden, sind die Ausnahme. Aber auch 2023 gibt es Stiftungen, die ihre Anlage anpassen müssen. Das kann unterschiedliche Gründe haben. „Manche Stiftungen haben ein sehr starkes Fundraising – das aber häufig an einzelnen Personen hängt. Wenn sie ausscheiden, dann brechen Netzwerke weg, die man in der Regel nicht aus der Hüfte heraus kompensieren kann.“ Andere Stiftungen konnten mit eingeloggten Zinsen im Festgeldbereich arbeiten oder hielten sehr lang laufende Anleihen.
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Rekord
Ein VIX bis 15 gilt als Zeichen von niedrigen Schwankungen. Das Mittelfeld für den Volatilitätsindex liegt laut Standard and Poor’s bei 15 bis 25. Werte über 25 gelten als hoch, über 30 als extrem hoch. Zu Beginn der Corona-Pandemie im März 2020 stieg der VIX auf seinen bisherigen Höchstwert von 82,69.
Der Nachricht des zurückgekehrten Zinses steht das Herantasten an Schwankungen gegenüber. Gerade kleinere Stiftungen haben hier Spielraum, um den Arbeitsaufwand gering zu halten. „Ich persönlich würde empfehlen, dass jede Stiftung, die nicht bilanzieren muss, es auch nicht tun sollte, sondern nach Anschaffungswert eine Vermögensaufstellung abgibt. Natürlich kann ein handelsrechtlicher Jahresabschluss von Vorteil sein, aber man sollte sich überlegen, ob man ihn tatsächlich braucht“, sagt Asche.
Denn vermeiden lässt sich Volatilität nicht. „Wenn die Zukunft bekannt wäre, würde der Wert eines Unternehmens heute alle diskontierten Cashflows berücksichtigen und sich dann linear bewegen – sie ist es aber nicht“, sagt Asche. „Wir haben 2022 gesehen, dass man gleichzeitig mit Aktien und Anleihen Geld verlieren kann. Stiftungen brauchen aber die lange Perspektive, und eine breite Streuung vermindert das Ausfallrisiko. Das ist allerdings eine der Grundschwierigkeiten bei der Stiftungsarbeit – so zu abstrahieren, dass das Konzept funktioniert, wenn die aktuellen Entscheider schon lange nicht mehr sind.“
Die Idee, mit der Stiftungsaufsicht zu sprechen, hält Asche für wenig sinnvoll. „Das höre ich zwar immer wieder von Vorständen, aber die Aufsicht ist eben eine Rechts- und keine Fachaufsicht und darf daher Anlagelösungen weder verbieten noch empfehlen. Sie kann nur darauf hinweisen, dass das Grundstockvermögen langfristig erhalten werden muss.“