Bleiben Sie zu Hause und minimieren Sie Ihre Kontakte – das war die Anweisung des Bundesgesundheitsministers im Herbst 2020. Kaum eine Bevölkerungsgruppe traf diese Weisung härter als Obdachlose: Sie haben kein Zuhause, in dem sie ihre Kontakte beschränken könnten. Stattdessen mussten diejenigen Einrichtungen, die – zumindest vorübergehend – Obdachlosen als Zuhause dienen oder ihre Grundbedürfnisse erfüllen, vielfach schließen.
„Da ihnen außerdem die Einnahmen durch Betteln fehlten, konnten sich Obdachlose vergangenes Jahr noch weniger selbst versorgen“, sagt Bernd Reisig, Gründer und Vorstand der in Frankfurt am Main ansässigen Stiftung „Helfen helfen“. Jedes Jahr veranstalten er und sein Team ein Weihnachtsgansessen für Obdachlose im Ratskeller auf dem Römer. Seit 2013 findet das Essen statt, zu dem rund 600 Wohnungslose kommen und von prominenten Kellnern wie Schauspielerin Uschi Glas und Kabarettist Chin Meyer bewirtet werden. 2020 musste Reisig die Veranstaltung absagen.
„Wir haben viel hin und her überlegt, sogar geprüft, es in den Messehallen zu veranstalten, mit mehr Möglichkeit für Abstand. Allerdings hätten die Nebenkosten dort pro Person etwa 180 Euro betragen, das stand in keinem Verhältnis“, beschloss der hauptberufliche Musikmanager.
Geschenke und Essen auf Rädern
Um das fürs Weihnachtsessen allokierte Budget trotzdem zweckgemäß einzusetzen, fuhren Reisig und sein Team von fast 200 ehrenamtlichen Mitarbeitern stattdessen Weihnachtspäckchen und Essen auf Rädern aus. „Wir haben Brötchen geschmiert, Obst bei Firmen abgeholt und Geschenkpäckchen mit Decken und Handschuhen gepackt“, berichtet der Frankfurter. Eine Ausgabestelle, an der Obdachlose Essen und Päckchen abholen, durfte es nicht geben, da dort die Abstandsregeln nicht hätten gewahrt werden können. Reisig besorgte also 15 Lastenfahrräder, seine Mitarbeiter fuhren die Hilfspakete aus.
„Unter unseren Ehrenamtlern waren auch Ärzte. Sie zeigten sich schockiert, wie viel schlechter der Gesundheitszustand der Obdachlosen war im Vergleich zu den Vorjahren. Manche litten unter völligem Flüssigkeitsmangel. Hilfsstrukturen dürfen einfach nicht mehr geschlossen werden“, mahnt Reisig.
Zusätzliches Personal, Hygienemaßnahmen
Nur zwei Gehminuten vom Ratskeller entfernt sind die Räume der Stiftung Franziskustreff. Die von der Deutschen Kapuzinerprovinz gegründete Stiftung bürgerlichen Rechts bewirtet dort von Montag bis Samstag mehr als 100 Obdachlose mit einem reichhaltigen Frühstück und bietet Sozialberatung an. Zehn angestellte und 60 ehrenamtliche Mitarbeiter sind dafür aktiv.
Auch diese Obdachlosenhilfe sollte im Herbst 2020 ursprünglich pausieren. Doch gemeinsam mit dem Gesundheitsamt fand der Stiftungsvorstand eine Lösung: „Wir haben Hygieneschulungen gemacht und über Partnerorganisationen Masken und Desinfektionsmittel besorgt“, berichtet Rubén Zárate, der erst im Jahr zuvor als Bereichsleiter Wohltäter-Beratung zur Stiftung gekommen war. „Unsere Ehrenamtlichen haben wir gebeten, daheim zu bleiben, wir haben zusätzlich Personal eingestellt, eine Waschstation vor dem Treff eingerichtet, die Sozialberatung auf Videoberatung umgestellt mit einem technischen Assistenten – Sie können sich vorstellen, was da los war.“
Heute kann Zárate über das Chaos lachen, das die vielen Vorgaben zunächst bewirkt haben. Am meisten aber freut ihn das Ergebnis: Die Türen des Franziskustreffs konnten durch die gesamte Pandemie hindurch geöffnet bleiben.
Hohe Spendenbereitschaft macht es möglich
Möglich gemacht hatte die Personalaufstockung für die Obdachlosenhilfe ein deutliches Plus an Spendeneinnahmen. „Unsere Spender haben gut verstanden, dass, wenn alle zu Hause bleiben sollten, das für jene nicht möglich ist, die keines haben“, sagt Zárate. Normalerweise hat der Franziskustreff-Gastraum 32 Plätze, momentan wegen Abstandsregeln nur zwölf. Um nacheinander trotzdem viele Obdachlose bewirten zu können, erweiterte der Franziskustreff seine Öffnungszeiten. In Tagestaschen gab das Stiftungsteam den Frühstücksgästen weitere Lebensmittel, Desinfektionssprays und Masken mit.
Nun also steht der zweite Corona-Herbst an, und auch in diesem Jahr dürften die Infektionszahlen wieder steigen, sobald das Wetter kälter wird. Trotzdem ist die Situation anders als 2020, findet Bernd Reisig. „Politik und Gesellschaft haben erkannt, dass wir mit der Pandemie leben müssen und es wieder Normalität geben darf.“ Für den 8. Dezember 2021 hat er daher wieder ein Weihnachtsgansessen angesetzt, der Ratskeller ist reserviert.
„Die Vorgaben der Kontaktnachverfolgung können wir natürlich nicht erfüllen, da unsere Besucher keine Adresse haben“, wendet Reisig ein. „Aber es werden die 3G-Regeln gelten.“ Obdachlose und ehrenamtliche Helfer mit Impf- oder Genesenen-Nachweis erhalten damit Zugang zum Ratskeller, Ungeimpfte können sich im Testzelt testen lassen, das die Stadt vor dem Eingang aufstellen lassen wird. Dort soll Obdachlosen auch nochmal eine Impfung angeboten werden, um diese Bevölkerungsgruppe weiter zu immunisieren.
Info
Zwischen 50 und 100 Prozent
Verlässliche Daten zur Impfquote unter Obdachlosen gibt es nicht. Manche Quellen sprechen von fast 100 Prozent, andere schätzen, dass erst knapp über die Hälfte der Wohnungslosen vollständig geimpft ist.
Im Ratskeller werden dieselben Abstandsregeln wie in der Gastronomie gelten: Zehnertische mit 1,5 Metern Abstand zueinander, die Kellner werden Mund-Nasen- Schutz tragen. „Wir versuchen, das Infektionsrisiko so weit wie möglich zu minimieren. Aber die Leute müssen auch mal wieder zusammensitzen und die Vorweihnachtszeit feiern dürfen“, findet Reisig.
Angebote für offene Gesundheitsfürsorge
Im Franziskustreff will man im Herbst und Winter 2021 an den bewährten Hygienemaßnahmen festhalten, auch weil andere Infektionskrankheiten wie die Grippe dazukommen könnten. Darüber hinaus plant die Stiftung eine Erweiterung des eigenen Hilfsangebots: „Auch über die Pandemie hinaus wird die von der Bundespolitik geplante Ausdünnung des Krankenhausnetzes Arme und Wohnungslose besonders treffen“, zeigt sich Zárate besorgt.
Daher werde die Stiftung Franziskustreff eine Krankenstation für Obdachlose eröffnen. „Die Gesundheitsfürsorge muss so offen gestaltet sein, dass die psychisch sehr sensiblen Menschen auf der Straße sie in Anspruch nehmen wollen und können.“
Während viele Bevölkerungsgruppen die Politik während der Pandemie als verbohrt empfunden haben, lobt Zárate ausdrücklich die konstruktive Zusammenarbeit mit den Frankfurter Behörden bei der Bewältigung von Pandemieauswirkungen. Und Bernd Reisig pflichtet ihm bei: „Es gibt im Frankfurter Gesundheitsamt viele Leute, die praxisnah helfen, Lösungen zu finden.“