Herr Tepel, wie lange waren Sie bei der Karl-Kübel-Stiftung beschäftigt?
Ralf Tepel: Ich bin jetzt im 32. Jahr bei der Stiftung: Ich habe damals als Projektreferent angefangen, in einer Aufbauphase in der Stiftung. Ende der 80er Jahre hatte Herr Kübel entschieden, von den sehr breit aufgestellten internationalen Programmen mit Projekten in Afrika, Lateinamerika und Asien die Arbeit auf Indien zu fokussieren. Es ging auch darum, sich dort langfristig zu engagieren und auf lokale Kräfte zu setzen, anstatt wie in den Jahren zuvor vielfach mit deutschen Mitarbeitern zu arbeiten. Als der Fokus auf Indien gelegt wurde, bin ich zur Stiftung gekommen, mit dem Auftrag, diesen Bereich mitaufzubauen.
Hatten Sie davor schon einen Bezug zu Indien?
Tepel: Ja, ich hatte Entwicklungsländerforschung mit Fokus auf Indien und die Philippinen studiert und kannte bereits aus Studienaufenthalten den recht diversen kulturellen Raum Indiens.
Was waren die Gründe für die stärkere lokale Fokussierung der Stiftung?
Tepel: Herrn Kübel ging es darum, die Projektarbeit zu konsolidieren und möglichst nicht mit der Gießkanne tätig zu sein, eine Expertise in der Stiftung sowie langfristig in Indien ein Netzwerk an Partnern aufzubauen. Ziel war, in diesem kulturellen Raum zu substanziellen Änderungen beizutragen. Und zwar gemeinsam mit Nichtregierungsorganisationen, die Herr Kübel schon kennengelernt hatte.
Nach welchen Kriterien wählt die Stiftung ihre lokalen Partner aus?
Tepel: Seit 1987 gibt es bei uns eine Struktur der Projektbegleitung: Wir arbeiten vor Ort mit Mitarbeitern zusammen, die bei einem lokalen Träger angestellt sind. Diese identifizieren für uns Projekte und prüfen Partner, sodass wir wissen, mit wem wir es zu tun haben. Viele der Partner, die wir damals identifiziert haben, sind bis heute unsere Partner. Wir haben die Partner aber auch ein wenig in unserem Sinne mitgeformt. Dies zeigt sich zum Beispiel an den Kooperationen im christlichen Bereich: Das waren anfänglich sehr karitativ ausgerichtete Organisationen, die mit dem heutigen Entwicklungsgedanken wenig zu tun hatten. Aber die Entwicklungszusammenarbeit mit Wirkungsorientierung, Nachhaltigkeit et cetera hat sich über die letzten 30 Jahre stark entwickelt. Die Partnerorganisationen mit ihren Patres und Ordensschwestern dort mitzunehmen, war oft kein einfacher Weg. Das hat auch Reibereien gegeben und einige Diskussionen gebraucht, um den neuen Weg einzuschlagen. Das sind Dinge, bei denen man heute schmunzelt, wenn man an sie zurückdenkt. Heute ist auch unser Partnerspektrum viel breiter als zuvor, so sind zum Beispiel viele säkulare Organisationen bei uns Partner – das ist auch durch unser Wachstum bedingt.

Ein erstes eigenes Sparbuch: Frauen in Südindien sparen kleine Eigenbeiträge an, um später einen Kredit zu erhalten. Foto: Ralf Tepel
Haben Sie konkrete Gespräche im Sinn, wenn Sie an diese Diskussionen zurückdenken?
Tepel: Es ging etwa um die Frage, ob man Geld verteilen möchte. Die Menschen dort sind arm, und die Kirche ist traditionell mildtätig aufgestellt. Wir haben immer gesagt, dass man von den Menschen auch eine Eigenleistung einfordern sollte. Nicht Dinge ohne Gegenleistung verteilen, sondern beispielsweise Kredite vergeben. Die Kredite gehen dabei nicht an uns zurück, sondern werden an die Gruppen von Kreditnehmern, sogenannte Selbsthilfegruppen, zurückgezahlt. Das erweitert deren Kredit- und Tätigkeitsspektrum, so dass mehr Menschen erreicht werden. In der Anfangsphase gab es um die Kredite große Diskussionen, weil die Pater gesagt haben: „Wir können den Menschen doch nichts abverlangen.“ Wir haben gesagt: „Fangt klein damit an und schaut, wie sich die Dinge entwickeln.“ Bis heute hat eine Partnerorganisation, eine Schwesternkongregation in Südindien, 20.000 Frauen in Selbsthilfegruppen organisiert.
Geht es bei diesen Selbsthilfegruppen vorwiegend um finanzielle Hilfe?
Tepel: Nein – das ist Herrn Kübel immer wichtig gewesen –, das ist nicht nur eine finanzielle Stütze, sondern es geht darum, dass die Gemeinschaft Verantwortung übernimmt: für das Dorf, für Frauen, für Kinder, für Familien. Es geht um politisches Empowerment. Heute sind viele der Frauen aus den Frauenselbsthilfegruppen in politischen Ämtern. Das haben wir auch über die Selbsthilfegruppen transportiert: In welche politischen Ämter und Gremien kann man sich einbringen, wie stellt man sich als Kandidat auf oder welche Förderprogramme gibt es? Dadurch hat sich das Gesicht ganzer Landstriche verändert: Jetzt stehen die Frauen, die sich früher kaum aus den Haushalten gewagt haben, sehr prominent da. Nicht nur wirtschaftlich sind sie angesehen, sondern auch politisch.

Hilfe zur Selbsthilfe: Eine von Frauen betriebene Werkstatt zur Reparatur von Bootsmotoren. Foto: Ralf Tepel
Sie sprachen eben das Wachstum der Stiftung an. Können Sie das an Zahlen festmachen?
Tepel: Das Stiftungskapital ist gewachsen: Herr Kübel hat uns eine Schenkung in Höhe von 37 Millionen Euro mitgegeben, die auf über 100 Millionen Euro angewachsen ist. Diese Substanz sollte inflationsbereinigt erhalten bleiben, das haben wir erreicht. Eine Herausforderung ist die Niedrigzinssituation. Wir müssen geeignete Instrumente finden, um die Substanz zu erhalten und gleichzeitig ausschütten zu können. Herr Kübel hat frühzeitig in Immobilien investiert; auch heute ist der Großteil der Substanz noch so angelegt. Unser Wachstum ist aber auch durch öffentliche Zuschüsse getrieben: Wir haben unsere Förderung durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung stark ausbauen können, diese ist heute eine wesentliche Stütze neben den Eigenmitteln.
Wie hat sich der Spendenanteil verändert?
Tepel: Wir haben in Folge des Tsunamis Ende 2004 relativ viele Spenden für Wiederaufbauprojekte eingenommen und auch bei weiteren katastrophenausgelösten Spendenaktionen gesehen, dass wir viele Partner in der Wirtschaft haben. Die Spenden haben seit 2005 deutlich an Gewicht zugenommen, so dass wir unser Projektvolumen von zwei bis drei Millionen pro Jahr auf eine Größenordnung von zehn Millionen Euro steigern konnten. Auch die Eigenbeteiligung von Menschen vor Ort spielt eine wachsende Rolle in der Finanzierung. Zudem gab es Wachstum in Bezug auf die Regionen, in denen wir tätig sind. So haben wir unseren Tätigkeitsbereich auf den Kosovo und die Philippinen ausgeweitet. Heute gibt es eine weitere Ausrichtung auf Afrika. Bedingt durch die Flüchtlingsströme haben wir gesagt: Wir wollen den Leuten in der Region, vor allem der Jugend, eine Perspektive bieten.

Die Karl-Kübel-Stiftung schafft Einkommen durch Kleinkredite. Foto: A.K. Behera
Diese Ausweitung auf andere Regionen ist ein deutlicher Bruch mit Ihrer anfänglichen Aufgabe, den Fokus stärker auf Indien zu richten. Wann kam es zum Strategiewechsel?
Tepel: In der Zeit 1987 bis Ende der 90er Jahre haben wir fokussiert, bis wir ein starkes Standbein in Indien entwickelt hatten. Wir wollten das Konzept, die Kooperation mit lokalen Nichtregierungsorganisationen, dann langsam und behutsam auf andere Länder ausweiten. Zuerst kamen die Philippinen dazu. Kosovo war eine persönliche Entscheidung des Stifters, der im Fernsehen gesehen hat, was vor unserer Haustüre passiert. Wir alle haben noch Bilder aus den Flüchtlingslagern an der Grenze des Kosovo im Kopf. Herr Kübel hat damals gesagt, dass wir dort etwas tun müssen. Er hat zwei Weltkriege erlebt und gesehen, wie tief gegenseitiges Misstrauen und Traumata sitzen. Dazu wollte er es gerade bei der Jugend nicht kommen lassen, sondern dazu beitragen, eine friedliche Gesellschaft in diesem multiethnischen Land zu schaffen.
Sie waren auch vor Ort, um sich ein Bild zu machen.
Tepel: Ja, ich habe das selbst erlebt, ich bin mit unseren damaligen Vorständen in den Kosovo gefahren. Das war eine der persönlich ergreifendsten Reisen, die ich je unternommen habe, da Tod und Zerstörung noch sichtbar waren. Wir haben mit den Menschen in den Kellern gesessen, die Häuser waren zerbombt. Das Einzige, was den Menschen blieb, war, sich im Keller zusammenzufinden. Das waren alte Menschen, Mütter und kleine Kinder – alle Männer ab einem gewissen Alter waren weg, ohne zu wissen, ob sie wiederkehren würden. Das waren ganz schlimme Erlebnisse.
Herr Heilmann, was war für Sie der Reiz daran, die Stiftungsleitung zu übernehmen?
Daniel Heilmann: Ich komme aus dem völker- und menschenrechtlichen Bereich und habe mich auf vorherigen Stationen bei der Hanns-Seidel-Stiftung und der Max-Planck-Stiftung mit Kinderrechten beschäftigt, aber nicht so fokussiert auf den Schutz und das Wohlergehen von Kindern wie in der Karl-Kübel-Stiftung. Darüber hinaus ist die Stiftung als große Organisation ein interessanter Arbeitgeber, da sie eine gute Infrastruktur hat.
In welchen Ländern Afrikas wird die Stiftung in Zukunft verstärkt tätig werden?
Heilmann: Der Schwerpunkt in Afrika liegt auf Ostafrika: Wir haben laufende Projekte in Äthiopien und Tansania, das wird die Basis sein. Wir haben vom Stiftungsrat den Auftrag bekommen, die Projektarbeit in Ostafrika auszuweiten. Wir wollen dort eine projektbegleitende Struktur mit Mitarbeitern vor Ort betreiben, so wie auf den Philippinen. Viele der Länder in Ostafrika gehören zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Erde, da ist es nach wie vor notwendig, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Ich kenne mich in Ostafrika ein bisschen aus und habe im Südsudan gearbeitet. Das ist neben Somalia das schwierigste Land in der Region. Dann haben wir noch Ruanda, Uganda, Kenia – das sind die Länder, die wir uns anschauen. Dann werden wir in mehreren Schritten zunächst Probleme identifizieren, die geeigneten lokalen Partner aussuchen und sehen, ob wir dafür Mittel generieren können.

Einkommensförderung durch Kleinkredite in Südindien. Foto: A.K. Behera
Wenn Sie auf Grundlage der Erfahrungen aus den bestehenden Projekten in Ostafrika ein neues Projekt starten: Wie viel lässt sich von bestehenden Strukturen übertragen, wie viel müssen Sie neu erfinden?
Heilmann: Die Länder sind so unterschiedlich, dass man das nicht pauschal sagen kann. Wir haben ein gewisses Ziel und Erwartungen an die lokalen Partner. Allerdings sehen wir uns hier mit dem Problem Shrinking Space konfrontiert: Der Bewegungsraum für die Zivilgesellschaft wird immer geringer. Das ist in Asien so und das ist auch in Afrika ein Problem. Auf den Philippinen macht die Karl-Kübel-Stiftung viel im Bereich Kinderrechte. So etwas wäre in einem anderen Land gar nicht ohne weiteres möglich. Es würde den Ländern also nicht gerecht werden, ein Projekt eins zu eins übernehmen zu wollen.
Gibt es Mittel, um gegen den Shrinking Space vorzugehen?
Heilmann: Wir wollen unsere Partnerorganisationen empowern, stärken. Ich war drei Jahre in Indonesien für eine andere Stiftung tätig: Man muss realistisch sein und den vorgegebenen Rahmen nutzen. Den Rechtsrahmen zu ändern –, mehr Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit – das ist teilweise auch Aufgabe der Politik. Ich sehe unsere Aufgabe darin, die Partner in den Ländern zu stärken, zumindest dort, wo dies nicht zu Gefahren für die Mitarbeiter führt. Gleichzeitig müssen wir uns auch der Grenzen bewusst sein.
Wenn wir in die Zukunft schauen: Was wäre Ihre Vision für die Stiftung, was würden Sie sich wünschen?
Tepel: Ich glaube, wir haben in Indien und auf den Philippinen eine gute Basis etabliert, gerade im Bereich politisches Empowerment und Menschenrechte. Ich würde mir wünschen, dass wir dort, wo wir eine breite Basis von Millionen von Menschen haben, unseren politischen Einfluss auf die Gesetzgebung in Richtung Kinder- und Frauenrechte noch stärker ausspielen. Da kann auch die Arbeit in Ostafrika hingehen.
Heilmann: Ich würde die Stiftung in 20 Jahren nicht unbedingt am wirtschaftlichen Erfolg messen wollen, sondern an der Wirkung, die wir unter dem Motto Hilfe zur Selbsthilfe erzielen. Wir wollen die Partner dahinbringen, dass wir zu einem Austausch auf Augenhöhe kommen – das ist in manchen Ländern eher der Fall, in manchen Ländern weniger.

Auch in Äthiopien fördert die Stiftung Kleingewerbe. Im Bild: Fladenbrotherstellung. Foto: Ralf Tepel
Was braucht es für einen Dialog auf Augenhöhe?
Heilmann: Ich würde sagen, das ist ein Bildungsthema. Es gibt natürlich sehr gebildete Menschen auf den Philippinen. Aber Bildung gibt es dort noch nicht in der Breite.
Tepel: Augenhöhe heißt auch: Sie müssen uns verstehen. Ostafrika zum Beispiel ist im kulturellen, ethnisch-sprachlichen Kontext herausfordernd. Wir sind in Netzwerke und Strukturen eingebunden, zudem gibt es Vorgaben, die wir, aber auch unsere Partner erfüllen müssen. Dafür muss auf der Empfängerseite ein Verständnis vorhanden sein.
Wie sehen solche Anforderungen aus?
Tepel: In der Projektfinanzierung vereinbaren wir mit dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung eine Planung, die für vier Jahre feststeht. Aus diesem Korsett kann man nicht einfach zwei, drei Wochen nach Projektbewilligung wieder aussteigen und sagen, man braucht jetzt doch etwas ganz anderes. Damit werden Vorgaben gemacht, die langfristig bindend sind. Es braucht also eine verlässliche Planung und einen verbindlichen Rahmen, der nicht substantiell in Frage gestellt werden darf.
Herr Tepel, kann man nach so vielen Jahren in der Entwicklungszusammenarbeit ganz loslassen?
Tepel: Nein, das kann man nicht. Natürlich ist es gut, dass es einen Zeitpunkt gibt, zu dem ich aus der Verantwortung des Vorstandes ausscheide und Menschen mit jungem Elan die Aufgabe übernehmen. Wir haben aber auch vereinbart, dass ich der Stiftung noch zur Verfügung stehen werde, indem ich helfe, mehr Stiftungen an die Entwicklungszusammenarbeit heranzuführen. Darum haben wir ein Reiseformat aufgelegt, um Menschen mit in die Projekte zu nehmen und zu zeigen: Das kann Stiftungsarbeit im Ausland erreichen. Außerdem habe ich mit meiner Frau eine kleine eigene Organisation gegründet, die Frauen und Kindern in Not helfen möchte. Das wird meine Aufgabe sein, diese kleine Pflanze zum Blühen zu bringen.