Von welchen Emotionen hängt es ab, ob sich ein Mensch sozial engagiert?
Stephan Dickert: Es gibt mehrere Emotionen, die soziales Engagement motivieren können. Einer der Hauptgründe dafür, dass man sich engagiert, wird in der Forschung „Warm Glow“ genannt – ein positives, warmes Gefühl, das ich in dem Moment empfinde, in dem ich anderen etwas Gutes tue. Dieses Gefühl ist oft ein starker Treiber für prosoziales Verhalten – also das Handeln für das Wohlbefinden eines anderen, seien es Freunde, Verwandte oder Unbekannte. Aber nicht bei allen Menschen: Wenn man eine individualistisch eingestellte Wertorientierung hat, fühlt man sich tendenziell sogar eher schlecht, wenn man gibt – weil man ja Ressourcen weggibt, die man für sich selbst hätte nutzen können.
Gibt es Zahlen dazu, wie ausgeprägt diese Wertorientierungen sind?
Dickert: Es gibt Studien, die untersuchen, wie prosozial oder individualistisch Menschen eingestellt sind. Die Ergebnisse variieren ein bisschen und hängen von der Wahl der Stichprobe ab. Aber es zeigt sich, dass 30 bis 40 Prozent eher individualistisch eingestellt sind. Eine Mehrheit der Menschen ist prosozial, und nur ein geringer Anteil vertritt das Gegenteil: Diese Menschen würden tatsächlich sogar Ressourcen ausgeben und wertvernichtend arbeiten, um im Vergleich zu anderen Personen besser dazustehen.

Prof. Stephan Dickert leitet die Abteilung für allgemeine Psychologie und Kognitionsforschung am Institut für Psychologie der Universität Klagenfurt. Foto: privat
Ändert sich die Werteorientierung im Laufe des Lebens?
Dickert: Die Wertorientierung ist nicht leicht zu verschieben. Das geht vielleicht zeitweise, aber die Werthaltung ist tief in der Persönlichkeit verwurzelt und relativ stabil. Diese bestimmt nicht nur das Verhalten, sondern auch die Bewertung von Verhalten. Eine individualistische Wertorientierung führt dazu, dass man prosoziale Handlungen eher negativ bewertet, da das eigene Wohl generell über das Wohl anderer gestellt wird. Eine prosoziale Wertorientierung hingegen würde egoistisches Verhalten negativ bewerten. Man nimmt die Handlungen anderer aus seiner eigenen Wertehaltung wahr.
Wenn ich heute ehrenamtlich engagiert bin, werde ich also mit hoher Wahrscheinlichkeit in 30 Jahren noch Freude am Ehrenamt haben?
Dickert: Wahrscheinlich schon. Es kann natürlich sein, dass Sie dabei schlimme Erfahrungen machen, dann könnte sich das ändern. Aber im Grunde ist die Haltung relativ stabil über die Lebenszeit. Es ist natürlich auch möglich, dass ein Individualist sich prosozial verhält – aber die Gründe sind dann oft anders. Solange der persönliche Nutzen gegeben ist, sind die Chancen dafür sogar gar nicht so schlecht. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn eine Stiftung oder Spende öffentliche Anerkennung oder sonstige Vorteile bringt.
Gibt es Eigenschaften, die prosoziales Handeln begünstigen?
Dickert: Es gibt Daten, die zeigen, dass man sich mit zunehmendem Alter prosozialer verhält. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen basieren prosoziale Entscheidungen bei älteren Menschen eher auf Gefühlen wie Mitleid oder Empathie; zum anderen geben ältere Menschen öfter an, dass sie sich durch ein prosoziales Engagement besser fühlen. Neben diesen psychologischen Gründen kann es aber auch daran liegen, dass man im Alter einfach mehr Zeit und eventuell auch genug Geld hat. Es gibt außerdem einen weiteren demographischen Befund: Frauen spenden öfter als Männer. Allerdings sind die Spenden von Männern meistens höher als die von Frauen. Hier gibt es verschiedene Erklärungsansätze, etwa die systematischen Einkommensunterschiede oder der Befund, dass bei Spendenentscheidungen Fairness für Frauen und Effizienz für Männer wichtiger sein soll. Abgesehen von diesen Alters- und Geschlechtsunterschieden handeln Menschen natürlich auch dann prosozialer, wenn sie die Hilfsbedürftigkeit von anderen sehen und verstehen.
Welche psychischen Vorgänge bestimmen jemanden, der sich nicht prosozial verhält?
Dickert: Wenn man zum Beispiel Hilfsbedürftige sieht, fühlt man deren Leid oft mit. Man hat dann die Wahl, darauf zu reagieren oder nicht. Und wenn man nicht reagiert, braucht man meistens gute Gründe vor sich selbst. Ich habe mal in einer Studie danach gefragt, warum nicht gespendet wurde: Die Gründe lauteten „Das Geld kommt sowieso nicht an“ oder „Meine Eltern haben an Weihnachten schon gespendet“. Meiner Meinung nach werden solche Gründe in dem Moment konstruiert, damit man sich nicht so schlecht fühlen muss. Das ist ein Beispiel für Dissonanzreduktion.
Wie funktioniert Dissonanzreduktion?
Dickert: Es gibt ein Selbstbild, das eigene Verhalten und eine Bewertung dessen. Wenn das nicht im Einklang ist, kommt es zu Dissonanz, einem relativ unangenehmen Gefühl, welches man aufzulösen versucht. Zum Beispiel wenn ich sage: „Ich bin eigentlich ein guter Mensch und Helfen ist eine gute Sache, aber ich helfe nicht.“ Dann ist dieses Dreieck nicht mehr in Balance, und ich muss etwas machen, um diese Balance wiederherzustellen. Ich kann dann mein Verhalten ändern. Oder die Bewertung ändern, also sagen: „Spenden ist ja sowieso unsinnig.“ Oder ich sage: „Dann bin ich halt kein netter Mensch“, ändere also mein Selbstbild.
Was können Stiftungen tun, um sich psychologische Erkenntnisse zunutze zu machen?
Dickert: Vergangenes Verhalten ist ein guter Prädiktor: Wenn jemand sich oft in Stiftungen engagiert hat, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er dies auch in Zukunft tut. Ebenso beim Spenden: Jemand, der früher gespendet hat, wird wahrscheinlich auch künftig weiterhin spenden. Außerdem sollten Stiftungen wissen, was die Gesellschaft aktuell bewegt. Ereignisse, die in den Medien gezeigt werden, sind hierfür oft ein guter Spiegel. Da ist die Spendenbereitschaft meistens höher, weil ein Bewusstsein für die Probleme geschaffen wurde.
Genau solches Handeln wird ja auch oft kritisiert: Dass im Hinblick auf akute Probleme Fundraising betrieben wird, wohingegen dauerhafte Probleme weniger Beachtung erhalten.
Dickert: Das ist richtig, aber es gibt Forschungsergebnisse, die zeigen, dass Emotionen, wie zum Beispiel Mitleid, auf Dauer abschwächen. Ein konstantes, dauerhaftes Problem ruft weniger Mitleid hervor als ein akutes. Spendenaufrufe, die sich Emotionen zunutze machen wollen, versuchen, genau in diesen Momenten die Leute aufmerksam zu machen und anzusprechen. Für konstante oder kontinuierliche Probleme ist es ungleich schwerer, die erforderliche Aufmerksamkeit zu bekommen, obwohl diese vielleicht dringender Unterstützung benötigen. Zudem ist es für Spender oft wichtig, einen effektiven Beitrag zu leisten. Das bedeutet, dass man auch gerne sehen möchte, inwiefern der eigene Beitrag zur Reduktion des Problems beigetragen hat. Bei konstanten Problemen ist das nicht so sichtbar wie bei akuten.
Ihre Studien zeigen, dass es einen großen Unterschied macht, ob ich im Fundraising einen einzelnen Menschen zeige oder das Schicksal vieler in Zahlen angebe. Können Sie das erklären?
Dickert: Im Grunde zielt Fundraising immer darauf ab, zu informieren und zu motivieren. Das ist schwierig, weil die Aussage „Soundso viele Menschen verhungern oder brauchen Impfung“ erstmal eine Information ist. Ob diese auch motiviert zu spenden, ist eine ganz andere Frage. Große Zahlen können beim Leser eine Reaktion hervorrufen wie: „Was, so viel wird benötigt? Da kann ich ja eh nichts machen.“ Das ist der Gedanke, die Hilfe sei ein Tropfen auf dem heißen Stein – da handelt man dann eher nicht.
Wie wäre es denn sinnvoller zu kommunizieren?
Dickert: Schwer zu sagen. Es wurden schon viele Ansätze ausprobiert. Es gibt den Einzelschicksaleffekt: Wenn man anstelle einer großen Anzahl von Personen nur ein Opfer oder eine betroffene Person auswählt und diese sehr graphisch darstellt, so kann dies stärkere Emotionen auslösen, die dann zum Handeln motivieren. Oft wird der Name der Person genannt, sie wird mit einem Bild gezeigt, und ihre Geschichte wird beschrieben. Das Einzelschicksal steht hier für alle Betroffenen, auf Englisch spricht man von „Iconic Victims“. Ein Beispiel, das Sie kennen, ist Alan Kurdi, der zweijährige syrische Junge, der bei der Überfahrt nach Europa ertrunken ist und dessen Leichnam an einem türkischen Strand angespült wurde. Dieses eine Bild war so emotional aufgeladen, dass es die Flüchtlingspolitik in Europa bewegt hat. Es hat viel mehr bewegt als die Anzahl von über 300.000 Toten, die es zu dieser Zeit im Krieg in Syrien gegeben hat. Diese Zahl hat informiert, aber nicht motiviert. Das Einzelschicksal hat dagegen stark motiviert.
Nutzen gemeinnützige Organisationen diesen Effekt?
Dickert: In Spendenaufrufen wird das probiert. Wenn der Spender aber regelmäßig traurige Gesichter von Einzelschicksalen auf Spendenaufrufen sieht, kann er irgendwann nicht mehr emotional reagieren. Das kann man also sehr leicht überreizen. Was im Fundraising auch oft versucht wird, ist eine Kombination aus Einzelschicksal und Zahl. Zum Beispiel: „Dieses Kind ist eines von 300.000, die genauso leiden.“ Es zeigt sich aber, dass die Zahl von den Emotionen für das Einzelschicksal ablenkt – die Kombination funktioniert also auch nicht. Andere Organisationen konzentrieren sich im Fundraising weder auf Einzelschicksale noch auf Zahlen, sondern schreiben stattdessen: „Spenden Sie für unsere Organisation, und wir machen das Beste draus.“ Jedoch ist noch unklar, inwiefern dies zum gewünschten Erfolg führt. Es ist also insgesamt ein komplexes Thema.
Sie forschen auch zu dem Phänomen der „Scope Insensitivity“. Was ist darunter zu verstehen?
Dickert: Wir gehen hier der Frage nach, wie sensibel Menschen auf Änderungen einer quantitativen, zählbaren Größe reagieren. Eine Katastrophe, die 1.000 Menschen betrifft, kann Emotionen wie Mitleid oder Wut und eine gewisse Spendenbereitschaft hervorrufen. Wenn ich die Anzahl der Opfer von 1.000 auf 10.000 oder 100.000 erhöhe – dann ändert sich die Betroffenheit nicht in gleichem Maße. Wenn ich also ein gewisses Mitleid mit 1.000 Opfern habe, verhundertfacht sich dieses Mitleid nicht, wenn die Anzahl der Opfer hundertmal größer ist, sondern wir beobachten eine Stufenfunktion. Man sagt: „Ich habe Mitleid“, „Ich habe noch ein bisschen mehr Mitleid“ oder „Ich habe ganz viel Mitleid“. Die Reaktion ist nicht linear. Das an sich ist problematisch, wenn die Hilfsbereitschaft nur auf den empfundenen Emotionen basiert. Wir nehmen wahr, dass in einer Gruppe die Not größer ist als in einer anderen, aber unsere Reaktion darauf fällt nicht proportional aus. Entsprechend sind wir dann auch nicht bereit, für die größere Gruppe an Betroffenen einen proportional größeren Betrag zu spenden.
Zuerst erschienen in DIE STIFTUNG 2/2020.