Zerbombte Städte, Hunger und die Blockade von humanitärer Nothilfe sind Probleme, die den Leiter von Caritas International, Oliver Müller, in der Ukrainekrise beschäftigen. Im Interview berichtet er darüber, welche Unterstützung die Ukraine zurzeit braucht – und welche nicht.

An welchen Orten leistet die Caritas in der Ukraine Nothilfe?
Oliver Müller: Der Schwerpunkt liegt in der Ukraine selber. Wir sind einer der Hauptpartner der Caritas Ukraine, die rund 1.000 Mitarbeitende im Land hat. Das ist also eine größere Organisation, mit der wir schon seit Jahrzehnten zusammenarbeiten und die vor Ort gut verankert ist. Das Spektrum der Projektarbeit ist breit, es reicht von humanitären Hilfen, die im Osten geleistet werden, bis hin zu Hauskrankenpflege der Caritaszentren in Dnipro, Zaporizhzhia und Kramatorsk und Projekten mit Kindern.

Die Caritas Spes verteilt trotz widriger Bedingungen Hilfsgüter in Kiew.

Die Caritas Spes, der ukrainische Arm der Wohlfahrtsorganisation, verteilt Hilfsgüter in Kiew. Foto: Caritas Spes

Wie ist die Lage vor Ort für die Helfer?
Müller: Im Osten der Ukraine ist die Situation dynamisch. Das Sozialzentrum in Mariupol musste verlassen werden. In Kramatorsk ist die Situation unklar, da gibt es noch verschiedene Hilfsmaßnahmen, während in Dnipro die Zentren weiterhin arbeiten. Dort werden Hilfsgüter verteilt, Unterkünfte gestellt, und es gibt eine Anlaufstelle für Geflüchtete. Im Westen der Ukraine ist die Arbeit noch weitgehend uneingeschränkt. Aber die Situation ist dynamisch und verändert sich von Tag zu Tag. Neben den Zentren hilft die Caritas über andere Strukturen. So ist die Verteilung von Hilfsgütern und die Betreuung der Binnenvertriebenen, etwa an Bahnhöfen, ein großes Thema. Außerdem haben wir seit Jahren auch Hauskrankenpflege für alte und pflegebedürftige Menschen aufgebaut. Diese Hilfstätigkeiten laufen trotz großer Schwierigkeiten weiter. Wir unterstützen auch Kinderzentren in Odessa, Dnipro und Lviv. Und es gibt psychologische Beratung, inzwischen hauptsächlich elektronisch. Da ist ein riesiger Bedarf im Land.

Oliver Müller, Caritas International

Oliver Müller ist der Leiter von Caritas International. Foto: Caritas international

Haben Sie dazu Zahlenangaben für uns: An wie vielen Orten etwa ist die Caritas Ukraine präsent? Wo findet Nothilfe seitens der Caritas in der Ukraine statt?
Müller: Die Caritas Ukraine hat 37 Standorte, doch die Zahl ist rückläufig. Ich kann aktuell nicht genau sagen, wie viele noch aktiv sind, ich gehe von augenblicklich 34 aus, die noch arbeiten können. Vieles ist verlagert worden, einige Standorte zählen wir nicht als offizielle Standorte, zum Beispiel Ferienunterkünfte, die in Schlafstätten umgewandelt wurden.

Wie sieht die Situation für Menschen auf der Flucht aus?
Müller: Für Geflüchtete gibt es Hilfen in den Nachbarländern, etwa in Polen und in großem Umfang auch in Moldawien. Moldawien ist neben Albanien das ärmste Land Europas, das heißt, die Aufnahmemöglichkeiten dort sind ziemlich gering. Wir haben daher unsere Kollegin, Henrike Bittermann, die bis kurz vor Kriegsbeginn für uns in Lviv gearbeitet hat, nach Chișinău in Moldawien entsandt. Sie hilft dort den Kolleginnen und Kollegen der Caritas Moldawien, Aufnahme- und Unterbringungsmöglichkeiten für die ukrainischen Geflüchteten zu schaffen, die gegenwärtig noch fehlen. Von daher ist es wichtig, dort zu helfen. In Warschau unterstützt unser Kollege, Pasquale Ionta, den dortigen Caritaskrisenstab bei der Koordinierung der umfassenden Hilfsmaßnahmen. In der Ukraine helfen wir mit Lebensmitteln. Denn die, die bereits flüchten konnten, sind die Starken, die große Selbsthilfekräfte haben. Die, die noch da sind, Alte und alleinerziehende Mütter, Menschen ohne Verwandte im Ausland, sind die Vulnerabelsten. Denen geht es jetzt besonders schlecht, weil Lebensmittel in einigen Städten knapp werden.

Die Caritas leistet Nothilfe in der Ukraine, hier in Charkiw.

Helfer entladen einen Zug mit Hilfsgütern, der in Charkiw eingetroffen ist. Foto: Caritas Spes

Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen gibt an, dass rund drei Millionen Menschen in der Ukraine bald Hunger leiden könnten. Steht eine Hungerkatastrophe bevor?
Müller: Die Gefahr, dass Menschen hungern, ist da. Fraglich ist, ob die russische Armee den Zugang zu den Menschen behindert. Das ist in einigen der eingekesselten Städte jetzt schon das große Problem. Von unseren Partnern in der Ukraine wurde uns zurückgespiegelt: Transporte aus dem Westen des Landes sind unterwegs, aber man muss die Menschen auch erreichen. Da sind wir mitten in den Kriegswirren. Wir können nur an die Kriegsparteien und vor allem an die russische Armee appellieren, alle Hilfsorganisationen durchzulassen.

Wird Hunger als Kriegsmittel eingesetzt?
Müller: Ich fürchte, ja. Die Bilder, die man aus einigen ukrainischen Städten sieht, erinnern mich fatal an Bilder, die ich in Syrien gesehen habe. Die Zerstörungen im Zivilbereich sind groß, und das ist wirklich erschütternd, weil man es den Menschen unmöglich macht, zurückzukehren, wenn ihre Wohnungen zerstört und nicht mehr bewohnbar sind.

Wie läuft die Absprache mit anderen Hilfsorganisationen?
Müller: Wir sind täglich per Videokonferenz im Austausch mit den Kollegen vor Ort von Caritas Ukraine, die wir gut kennen. Wir haben bisher zwei Mitarbeitende in der Ukraine zum Monitoring gehabt, eine Person in Kiew, eine in Lemberg – die mussten aber jetzt evakuiert werden. Die Caritas Ukraine nimmt vor Ort auch die Abstimmung mit anderen Hilfsorganisationen wahr. Viele Entscheidungen können sie vor Ort besser treffen als wir.

Schlafplätze für Geflüchtete in Lviv

In einer Grundschule in Lviv im Westen der Ukraine hat die Caritas Schlafplätze eingerichtet. Geflüchtete können sich hier ausruhen, bevor sie weiterreisen. Foto: Fabian Berg/Caritas Germany

Sollte man die Nothilfe in der Ukraine den großen Hilfswerken überlassen oder ist es gut, wenn sich viele kleine Organisationen einbringen?
Müller: Die Frage ist nicht einfach zu beantworten. Ich sehe, dass es viele Akteure gibt, die Partnerorganisationen auf ukrainischer Seite haben und diese unterstützen. Das ist gut und hilfreich. Die Hauptproblematik momentan sind die vielen Hilfslieferungen, die nicht abgestimmt sind. Gift sind unkoordinierte Hilfen, die Kräfte binden. Ich erinnere daran, dass es immer wieder zu Medikamentenspenden kommt. Diese sind in der Regel kompletter Unsinn, weil niemand vor Ort Medikamente aus Deutschland sortieren kann. Die Medikamente werden dann in der Regel nicht verabreicht und landen im Sondermüll. Der Worst Case wäre, dass die Mitarbeiter unserer Partnerorganisationen damit beschäftigt sind, Hilfsgüter zu sortieren, und deshalb nicht in der Lage sind, Lebensmittellieferungen zuzustellen. Berichte, dass es in der Grenzregion zu viele Kleiderspenden gab, haben uns schon erreicht. In der Summe würde ich sagen, man braucht wohl beides: Die großen Hilfsorganisationen und die privaten Initiativen können, wenn sie gut vorbereitet sind, einander gut ergänzen.

Caritas Nothilfe Ukraine ältere Menschen

Die Caritas versorgt ältere Menschen in Nadwirna. Foto: Caritas Ukraine

Wie können Stiftungen zurzeit am besten unterstützen?
Müller: Ich würde mir Partner suchen, die sich in der Ukraine gut auskennen und vor der Krise bereits im Land unterwegs waren, weil das ein Ausweis dafür ist, dass die Organisation über eine funktionierende Struktur verfügt.

Wie entwickeln sich die Spendengelder aktuell?
Müller: Die Solidarität in Deutschland ist unglaublich hoch, das kann man nicht hoch genug bewerten. Ich nehme Solidarität auf allen Ebenen wahr. Es gibt viele Spenden an Hilfsorganisationen, was uns in die Lage versetzt, umfangreiche Hilfsprogramme durchzuführen. Ich sehe aber auch die vielfältigen Initiativen vor Ort. Diese reichen vom Packen von Hilfstransporten bis hin zur Bereitstellung von Wohnraum. Ich sehe das als sehr positives Zeichen der Solidarität und des Zusammenhalts in der Gesellschaft. Es zeigt, dass uns das Schicksal von Menschen in Nachbarländern, mit denen uns ja oftmals wenig verbindet, berührt und zur Hilfe führt. Das ist sehr positiv.

Sehen Sie die Gefahr, dass andere Krisen durch die Ereignisse in der Ukraine in den Hintergrund gedrängt werden?
Müller: Ja, ich sehe diese Gefahr, da die Krisen in anderen Ländern nicht stillstehen. Ich denke da zum Beispiel an die Hungersituation am Horn von Afrika und an die nach wie vor extrem angespannte Situation in Afghanistan. Von daher freue ich mich auf der einen Seite sehr über die breite Solidarität, verbinde das aber andererseits mit der Hoffnung, dass es noch Solidarität mit den anderen Katastrophen gibt. Wir standen vor einer ähnlichen Situation im letzten Jahr, als wir nach der Flutkatastrophe in Deutschland zu Spenden aufgerufen haben. Die Resonanz war extrem hoch. Gott sei Dank haben die Spender die anderen Krisen in der Welt nicht vergessen, und wir hatten keinen Rückgang bei den Spenden für den globalen Süden. Ich kann nur hoffen, dass sich ein ähnlicher Effekt 2022 zeigt.

Wie sehen Sie die Bestrebungen, wieder mehr in Militär zu investieren?
Müller: Ich kann die Sorge gut nachvollziehen, sehe aber auch mit Unbehagen die unvermittelte Entscheidung, ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro einzurichten, weil ich damit die Befürchtung verknüpfe, dass Mittel für soziale Zwecke, Entwicklungs- und humanitäre Hilfe fehlen könnten.

Was wären das beste und das schlechteste Szenario für die weitere Entwicklung des Kriegs in der Ukraine?
Müller: Das beste Szenario wäre ein sofortiger Waffenstillstand und Zugang zu Hilfe für die Menschen in der Ukraine und damit verbunden eine Rückkehr zu weitgehender Normalität, dass etwa Kinder wieder zur Schule gehen könnten. Worst-Case-Szenario ist, dass der Krieg sich so, wie er jetzt stattfindet, über einen langen Zeitraum in das Land hineinfrisst und dass es zu einem Beschuss und zur Zerstörung von Städten kommt, die dazu führt, dass Millionen von Menschen nicht mehr in ihre Häuser zurückkehren können, so wie wir es im syrischen Aleppo sehen. Ein andauernder Krieg über einen langen Zeitraum hinweg würde zu einem hohen Maß an Leid führen.

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