Als sie fünf Jahre alt war, erblindete Yetnebersh Nigussie. Doch das bremste sie nicht aus, sondern brachte sie erst so richtig in Fahrt. Sie kämpft für die Rechte von Menschen mit und ohne Behinderung – und konzentriert sich dabei auf Fähigkeiten statt Einschränkungen.

„Es war eine harte Zeit“, erinnert sich die äthiopische Menschenrechtsaktivistin Yetnebersh Nigussie. Die Worte, die bis dahin nur so aus ihr heraussprudelten, verlangsamen sich ein wenig. Sie wirkt nachdenklich, richtet den Blick nach innen. Einen Blick, der im Außen nur Lichtverhältnisse erkennen kann, seit sie fünf ist. Damals erkrankte sie an Meningitis. Und da im ländlichen Äthiopien keine ärztliche Behandlung möglich war, verlor sie ihr Augenlicht. Drei Jahre dauerte es, bis sie einen Arzt aufsuchen konnte. Das war zu spät.

„Ich hätte nicht erblinden müssen“, reflektiert sie heute ihre Situation. „Aber ich bin so zu dem Menschen geworden, der ich heute bin.“ Eine studierte Juristin, die sich dafür einsetzt, dass andere ihr Augenlicht behalten können. Dass Menschen mit Behinderung ihre Rechte gewährt werden. Dass es die nächste Generation nicht gar so schwer hat wie sie.

Harte Schule fürs Leben

Denn obwohl ihre Behinderung sie vor einer frühen Zwangshochzeit – wie sie in Äthiopien noch üblich ist – bewahrte, hat sie harte Jahre durchlebt, wie sie eindrucksvoll schildert. Zwar konnte sie zur Schule gehen und eine akademische Laufbahn beginnen, doch weder die Blindenschule, die sie bis zur siebten Klasse besuchte, noch die normale Schule, die darauf folgte, waren leichte Kost. Inhaltlich hatte sie nie Schwierigkeiten, war immer die Beste der Klasse. Doch für den Besuch der Blindenschule musste sie ihr Heimatdorf und ihre Familie verlassen, und in der regulären Schule wurde sie von den Mitschülern gemieden. „76 Schüler waren es, und alle stritten sich um die begrenzten Plätze an den Tischen. Nur ich hatte immer einen, denn keiner wollte bei mir sitzen.“ Es waren einsame Jahre, erinnert sie sich. Sie habe ihre Tante, bei der sie damals in der Hauptstadt Addis Abeba lebte, angefleht, eine behindertengerechte Schule für sie zu finden. Doch es gab keine. Heute blickt sie darauf zurück und ist sich sicher, dass das ein Glücksfall war. „Diese harten Jahre in der regulären Schule haben mich fürs Leben geimpft“, sagt sie voller Überzeugung. Sie hätten sie auf die Ungeduld und Abwertung anderer Menschen vorbereitet, denen sie noch viele Male ausgesetzt sein würde. Und auf eine Gesellschaft, die die Rechte von Menschen mit Behinderung oft noch nicht anerkennt.

Yetnebersh Nigussie mit ihrer Tochter Ahati. Foto: Privat

Heute sprüht die Äthiopierin vor Energie, wenn sie von ihren Zielen spricht, ihr Bauch kugelrund im weiß-blauen Sommerkleid. Langsam macht sie deshalb nicht. Noch nicht. In Kürze beginnt der Mutterschutz, auf den sich vor allem die beiden Töchter – vier und sechs Jahre alt – und ihr Mann freuen. Denn dann hat die vielbeschäftigte Mutter und Ehefrau, die nach eigenen Angaben ein Drittel ihrer Zeit mit Reisen verbringt, endlich etwas mehr Zeit für die Familie. Zwar versuche sie, diese, wo möglich, in Aktivitäten einzubeziehen: „Manchmal backen wir für eine Fundraising-Aktion gemeinsam einen Kuchen oder meine Kinder begleiten mich ins Fernsehstudio“, berichtet Nigussie. Und jeden Morgen, an dem sie zu Hause ist, fahre sie ihre Töchter gemeinsam mit ihrem Mann in die Schule. Doch durch die vielen Reisen und die Zeitverschiebung ihrer internationalen Arbeit, die sie oftmals auch abends an den Schreibtisch bindet, bleibt die gemeinsame Zeit begrenzt. Ob es sie oder ihre Kinder traurig stimme, nicht mehr Familienzeit zu haben? „Ich weiß, wofür ich es tue, und auch meine Töchter verstehen es“, ist ihre optimistische Antwort.

Die Kampfgrundlage: Optimismus und Rechtswissen

Überhaupt scheint Optimismus das Denken und Machen der Mittdreißigerin zu prägen. Ungern blickt sie im Gespräch zu sehr auf ihre Vergangenheit, stört sich daran, wenn die Fragen nur auf ihr Defizit, den fehlenden Sehsinn, abzielen. „Eine Behinderung und 99 Gaben – wieso nicht auf die Fähigkeiten konzentrieren?“, regt sie zum Nachdenken an.

Ein weiteres Thema, auf das Nigussie die Aufmerksamkeit anderer lenken möchte, ist die Einstellung der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderung. „Ist es nicht die Aufgabe des Staates und der Universitäten, auch blinden Menschen die Teilhabe zu ermöglichen? Haben wir nicht genau dieselben Rechte wie alle anderen? Wenn eine Person mit Behinderung integriert wird, wird es stattdessen oft als gute Tat gesehen“, ärgert sie sich.

Hochschwanger und kurz vor dem Mutterschutz sprach Yetnebersh Nigussie für diesen Text mit DIE STIFTUNG. Foto: Franko Petri, Licht für die Welt

Um in ihrem Kampf gegen diese Ungerechtigkeit ein Werkzeug in der Hand zu haben und die Rechtslage zu verstehen, studierte sie in Addis Abeba Rechtswissenschaften. Allerdings steht für sie nie die Ungerechtigkeit im Vordergrund. „Ich bleibe nicht in der Wut stecken“, erklärt sie. Das zeichnet Yetnebersh Nigussie aus. „Ich schaue auf das, was ich verändern möchte, und packe es an.“ Das scheint ihr Erfolgsrezept zu sein. Als schöpfe sie Kraft aus jeder noch so ungerechten Diskriminierung, aus jeder Rechtsverletzung. „Der Weihnachtsmann wird dir deine Rechte nicht schenken“, so ihre klare Ansage. „Es ist unsere Verpflichtung, uns selbst und der nächsten Generation gegenüber, dafür zu kämpfen.“

Die Bücher schrieb sie sich selbst

Während ihrer Schulzeit tat sie das, indem sie sich im „student council“ ihrer weiterführenden Schule engagierte und so den Respekt der Lehrer und Mitschüler gewann. Die begriffen: Auch eine Person mit Behinderung kann der Gesellschaft etwas zurückgeben. Und das, obwohl schon der Alltag mehr Kraft abverlangt. Braille-Bücher gab es damals noch nicht. Sowohl in der Schule als auch im Studium musste sie sich die Bücher von Mitschülern oder Kommilitonen vorlesen lassen, aufnehmen und es danach zu Hause in Braille abtippen. „Nach und nach entstand Material, das wir auch untereinander weitergeben konnten.“ Sofern es andere Blinde im akademischen Sektor gab. Von den 21 Mitschülern ihrer Blindenschule konnten nur sieben weiter die Schule besuchen. Beim Rest konnte es sich die Familie nicht leisten oder die regulären Schulen verweigerten die Aufnahme.

Heute setzt sich Yetnebersh Nigussie für inklusive Schulen und für die Sensibilisierung der Gesellschaft für das Thema ein. In Äthiopien sei immer noch der Glaube weitverbreitet, böse Geister oder Sünden seien für Behinderungen verantwortlich, berichtet Nigussie. Auch sie musste eine Reihe von Behandlungen mit Weihwassern, Kräutern und Naturmitteln über sich ergehen lassen, bevor medizinischer Rat eingeholt wurde. „Selbst meine Familie musste ‚gereinigt‘ werden“, erinnert sie sich.

All das soll anders werden. Kinder und Jugendliche mit Behinderungen sollen nicht mehr versteckt und von der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Sie sollen in den normalen Schulalltag integriert werden und nicht die Familie verlassen müssen, um auf Sonderschulen zu gehen. Noch heute wird ihre Stimme traurig, wenn sie davon spricht, dass ihr nach ihrer Schulzeit nur noch wenige Jahre mit der geliebten Mutter blieben, die früh starb. „Dieser verlorenen Zeit mit meiner Mutter werde ich immer hinterhertrauern“, gibt sie zu.

Öffentliche Aufmerksamkeit als Türöffner

Doch so authentisch wie sie über diese traurigen Erinnerungen spricht, so kraftvoll blickt sie schon im nächsten Satz wieder nach vorne. Die Energie scheint ihr nicht auszugehen. Auch hochschwanger ist die zweifache Mutter neben ihrer Vollzeitstelle bei der Hilfsorganisation Licht für die Welt weiterhin in 20 bis 30 Institutionen freiwillig tätig, wenngleich bei manchen einfach ihr Name die Unterstützung sei.

Yetnebersh Nigussie mit Kollegen beim High Level Political Forum 2016 der UN. Foto: Joel Sheakoski

Denn seit sie 2017 den alternativen Nobelpreis (Right Livelihood Award) und kürzlich den Helen Keller Award gewann, sind viele Augen auf sie gerichtet. „Dieses internationale Interesse an mir lässt mich Türen öffnen“, erzählt Nigussie. Sie hebt auch das große Netzwerk hervor, das der Right Livelihood Award mit sich gebracht habe. Zwar hätten manche der Preisträger, darunter Edward Snowden oder Bill Clinton, thematisch nicht viel mit ihrer Arbeit zu tun, doch der Zusammenhalt und der Schutz, den solch ein Netzwerk bedeute, seien wertvoll.

Sobald wie möglich wolle sie sich deshalb nach der Geburt ihres voraussichtlich letzten Kindes wieder voll in ihre Arbeit stürzen. Sie wolle ein Buch schreiben und im äthiopischen Fernsehen auftreten, die öffentliche Aufmerksamkeit und die aufkommenden Themen der Zeit – von den nachhaltigen Entwicklungszielen der Vereinten Nationen (SDGs) über Digitalisierung bis hin zu einer äthiopischen Regierung, mit der sich arbeiten lasse – nutzen, um ihren Traum von einer diversen Welt ohne Diskriminierung weiter voranzutreiben. Eine Welt, in der man sich gegenseitig ergänze – jeder nach seinen eigenen Fähigkeiten. „Ich möchte, dass meine Kinder in einer Welt aufwachsen, in der ihre Rolle nicht nach Aussehen oder Geschlecht definiert wird.“

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Vielfach aktiv

Yetnebersh Nigussie studierte in Addis Abbeba Rechtswissenschaften und soziale Arbeit, mitbegründete das Ethiopian Center for Disability and Development (ECDD), das sich für die wirtschaftliche Inklusion von Menschen mit Behinderung einsetzt, ist heute Inklusionsexpertin bei der internationalen Hilfsorganisation Licht für die Welt und in mehr als 20 Institutionen freiwillig aktiv. Sie gewann mehrere Auszeichnungen.

Her Abilities Award

Um die Fähigkeiten und Verdienste anderer Frauen hervorzuheben, die sich trotz Behinderung für Veränderung einsetzen, hat Nigussie gemeinsam mit Licht für die Welt den „Her Abilities Award“ gegründet. Für Frauen, die sich, wie sie, auf Stärken und Chancen konzentrieren, statt Selbstmitleid und Verzweiflung Raum zu geben. Der Preis wird erstmals am 3. Dezember 2018 vergeben. Nominierungen sind von 2. Juli bis 30. September 2018 möglich.

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