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Riesenfreude: Die Preisträgerinnen sind glücklich über die Auszeichnung. Foto: Hertie-Stiftung / Peter van Heesen
Aktualisierung: Space2grow erhält den mit 50.000 Euro dotierten ersten Preis beim Deutschen Integrationspreis, der am 8. November in Frankfurt von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung verliehen wurde. Space2grow bietet berlinweit Workshops und Beratungsgespräche zu Familienplanung und Gesundheit für geflüchtete Frauen an. „Mit dem Preisgeld können wir das Konzept zunächst auf weitere Standorte im Osten Deutschlands ausweiten. Langfristig soll das Netzwerk und das Konzept deutschlandweit stattfinden“, sagen Anab Mohamud und Zeina Masaad, Gründerinnen und Projektleiterinnen von Space2grow. Der zweite Preis (30.000 Euro) ging an Triaphon aus Berlin, die das Problem der Sprachbarriere bei der Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Migrations- und Fluchthintergrund in Krankenhäusern lösen, um so die Qualität der medizinischen Versorgung zu verbessern. Der dritte Preis (20.000 Euro) ging an Flüchtlingspaten Syrien, die Familiennachzug per Bürgschaft über Patenschaften in ganz Deutschland organisieren. Die Hertie-Stiftung entschied sich am Abend der Veranstaltung gemeinsam mit der Jury zudem, die weiteren drei Finalisten ebenfalls mit einem Preisgeld von je 3.000 Euro zu unterstützen. Davon profitieren der Berliner Selbsthilfeverein Camp One, in dem Menschen, die überwiegend 2015/16 auf der Flucht nach Deutschland kamen, ihre Interessen eigenverantwortlich und selbstbewusst vertreten, die Hacker School Plus aus Hamburg, die den Jobeinstieg von Geflüchteten in IT-Berufe fördert und der Frankfurter Verein Teachers on the road, die über kostenlose und offene Deutschkurse für Geflüchtete gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen möchte.
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Preise gibt es wie Sand am Meer. Es gibt sie im intimen Rahmen und auf großer Bühne. Die Würdigung kann Wertschätzung ausdrücken und Aufmerksamkeit auf den Preisträger oder ein Thema lenken. Es gibt öffentliche Auswahlverfahren, doch manchmal herrscht auch Intransparenz vor. Lohnt es sich für eine Stiftung, noch einen weiteren Preis zu machen? Ja, unbedingt, aber bitte durchdacht, möchte man rufen. Zunächst sollte ein klares Ziel definiert werden, der Weg dorthin gut geplant sein und die Wahl der Mittel festgelegt werden.
So geschehen beim Deutschen Nachbarschaftspreis, der in diesem Jahr von der nebenan.de-Stiftung zum zweiten Mal vergeben wurde. Vor drei Jahren ging mit nebenan.de eine Plattform zur Stärkung des nachbarschaftlichen Engagements online, in der deutschlandweit mittlerweile eine Million Nutzer aktiv sind.

Große Bühne: Die Preisträger des diesjährigen Deutschen Nachbarschaftspreises freuen sich gemeinsam über die Auszeichnung Anfang September in Berlin. Foto: nebenan.de-Stiftung
Vor anderthalb Jahren gründete das dahinterstehende Sozialunternehmen eine Stiftung, um die gemeinnützigen Aktivitäten weiter zu stärken. Direkt nach der Gründung begann die Arbeit am ersten Deutschen Nachbarschaftspreis. In diesem Jahr ging dieser dann in die zweite Runde. Die Absicht war beide Male dieselbe: einen Mehrwert für die aktiven Nachbarn vor Ort und mehr Sichtbarkeit gleichermaßen zu erreichen. „Der Wettbewerb war für uns dafür das richtige Instrument“, sagt Michael Vollmann, Geschäftsführer der nebenan.de-Stiftung. Die Architektur des Preises wurde dann bewusst so aufgebaut, dass möglichst viele Teilnehmer angesprochen werden und Preisträger letztlich davon profitieren. So wurden in diesem Jahr zum ersten Mal neben den drei Bundessiegern auch 16 Landessieger und ein Sieger eines Publikumspreises prämiert. Durch die sechs bis sieben Nominierten auf Landesebene ergab sich insgesamt ein Kreis von über 100 Nominierten auf Bundesebene. Die qualitative Bewertung der Landes- und Bundessieger übernahm je eine Landes- sowie eine weitere Bundesjury. Diese waren mit jeweils fünf bis sechs Personen besetzt. Bei der Besetzung ging es den Organisationen um eine möglichst gleichmäßige Verteilung von Vertretern aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik.
Zusätzliche Aufmerksamkeit
In diesem Sommer erfuhr der Deutsche Nachbarschaftspreis zusätzliche mediale Aufmerksamkeit, als Horst Seehofer die Schirmherrschaft abgab. Vorausgegangen waren die Absage dreier nominierter Projekte aufgrund des Engagements des Bundesinnenministers sowie ein Wortgeplänkel zwischen Seehofer und dem Veranstalter. Bereits beim ersten Nachbarschaftspreis hatte Seehofers Amtsvorgänger Thomas de Maizière die Schirmherrschaft inne. Die Hausleitung des Ministeriums hatte diese Rolle somit geerbt. „Wir bedauern, dass der Kontakt zur aktuellen Hausleitung momentan abgebrochen ist, doch die Beziehungen auf operativer Ebene sind weiterhin gut und der Austausch sehr konstruktiv“, sagt Vollmann. Weder den Ruf des Preises noch den der Stiftung sieht Vollmann durch diese Entwicklung beschädigt: „Die große Aufmerksamkeit an sich war für die öffentliche Wahrnehmung des Preises nicht negativ. Dennoch sind wir weiterhin interessiert am Dialog zwischen der großen Politik und den Initiativen vor Ort.“ Die Organisatoren haben den Rückzug des Bundesinnenministers dann zum Anlass genommen, alle nominierten Projekte zu befragen, welche Probleme in den Nachbarschaften wirklich vorherrschen. „Die Ergebnisse dieser Befragung werden wir in Kürze gerne auch mit dem Bundesinnenministerium teilen“, sagt Vollmann. Damit hat die Kontroverse des Sommers auf der operativen Ebene eine gute Wendung genommen, und das Ziel der Organisatoren, das Thema gesellschaftlicher Zusammenhalt und nachbarschaftliches Engagement in den öffentlichen Diskurs zu bringen, ist erreicht.
Der Deutsche Nachbarschaftspreis hat zudem eine „Kartographierung“ der Projektlandschaft zur Folge. Mit über 1.000 Bewerbern innerhalb der ersten beiden Jahre entstand ein regional ausdifferenzierter Katalog an Projekt- und Lösungsansätzen. „Das kommt unserem Ansatz des Best Practice Sharing zugute“, sagt Vollmann. Nicht zuletzt findet auf der persönlichen Ebene eine besondere Wertschätzung für die Engagierten aus den Projekten statt, deren Höhepunkt die Preisverleihung ist. „Das löst einen nicht zu unterschätzenden langfristigen Motivationsschub für die dahinterstehenden Teams aus“, sagt Vollmann. Auch in den kommenden Jahren soll der Deutsche Nachbarschaftspreis wieder stattfinden. Ziel ist es, noch mehr Gewinner zu finden, und zwar durch eine weitere Regionalisierung des Preises von Länder- auf Städteebene.
Ein neuer Ansatz
Neue Wege ist die Gemeinnützige Hertie-Stiftung gegangen. Sie vergibt seit vergangenem Jahr den Deutschen Integrationspreis. In diesem Herbst steht die zweite Preisverleihung an. Das Besondere: Es geht nicht darum, rückwirkend Ehrenamtliche für vollbrachte Leistungen in der Vergangenheit zu ehren. „Wir nennen es zwar Integrationspreis, aber eigentlich ist es ein Crowdfunding-Projekt“, sagt Agata Werner, Projektleiterin des Deutschen Integrationspreises. Kernelemente einer Preisverleihung wie etwa einen Juryprozess gibt es in diesem innovativen Hybridmodell weiterhin. Die Jury schaut jedoch nach dem Crowdfunding-Wettbewerb nicht in die Vergangenheit, sondern bewertet das Entwicklungs- und Skalierungspotential. „Die Ideen sollten simpel umzusetzen und wirksam sein“, sagt Werner.
„Wir nennen es zwar Integrationspreis, aber eigentlich ist es ein Crowdfunding-Projekt.“
Agata Werner, Gemeinnützige Hertie-Stiftung
Was war der Anlass für den Deutschen Integrationspreis? Als 2015 die Zahl der Geflüchteten in Deutschland immer weiter stieg, stieg im Anschluss auch die Anzahl der Förderanfragen bei der Hertie-Stiftung. „2016 waren wir gerade dabei, Strukturen für die Integration Geflüchteter aufzubauen, wir hatten aber noch keine Kriterien definiert und auch keine Fördertöpfe in dem Bereich“, sagt Werner. Durch das Instrument Crowdfunding wollte die Stiftung Menschen animieren, Ideen anzugehen und auszuprobieren. „Dadurch haben wir auch neue Zielgruppen für unsere Förderung erreicht“, sagt Werner. Darunter eine Vielzahl an Sozialunternehmen, die wissen, wo es gesellschaftliche Herausforderungen gibt und wie Lösungsansätze dafür aussehen können. Insgesamt sind in den zwei Jahren 400 Bewerbungen für den Integrationspreis eingegangen. Beim zweiten Integrationspreis war es den Organisationen ein Anliegen, dass sich auch Geflüchtete selbst mit Projekten einbringen. Diese machten dann auch 40 Prozent der Bewerber im zweiten Jahr aus.
Zweistufiges Verfahren
Der Deutsche Integrationspreis besteht aus einem zweistufigen Verfahren. Die Projekte müssen sich bei Startnext für Crowdfunding anmelden und dort um Unterstützer werben. Nach der Rangfolge erhalten die erfolgreichen Projekte dort eine Unterstützung von 140.000 Euro von der Hertie-Stiftung. Im ersten Jahr waren es die ersten 20 und im zweiten Jahr die ersten 25 Projekte. In diesem Jahr endete der Crowdfunding-Contest im Mai. Auf Grundlage der Crowdfunding-Kampagne und eines Bewertungsbogens mit zehn Fragen ermittelt die Jury sechs Finalisten.

Mit dem Integrationsbus sind die Organisatoren quer durch Deutschland gefahren, um die Projekte einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Foto: Peter van Heesen
Im Oktober besucht die Jury die Finalisten vor Ort, und im November folgt vor der Preisverleihung ein öffentlicher Pitch, nach dem die Jury live und final entscheidet, wer die ersten drei Plätze belegt. Die sind mit einem Preisgeld von 100.000 Euro dotiert. „Durch diese Kombination wissen wir, dass das Preisgeld wirksam eingesetzt wird“, sagt Werner. Die Hertie-Stiftung versucht, die Jury möglichst heterogen aufzustellen. „In diesem Jahr sind Vertreter aus Medien, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und von Sozialunternehmen dabei“, sagt Werner. Wichtig ist den Organisatoren, auch die migrantische Perspektive abzubilden. So ist mit Gabriele Gün Tank die Geschäftsleiterin der Neuen Deutschen Organisationen (NDO) dabei, eines bundesweiten Netzwerks von Initiativen, die sich für Vielfalt und gegen Rassismus engagieren. Ebenso Zohre Esmaeli, Model und Unternehmerin aus Afghanistan mit eigener Fluchterfahrung. „Durch die Heterogenität in der Jury haben wir viele Blickwinkel, die bisher reibungslos funktionieren, da sie sich hervorragend ergänzen“, sagt Werner.
Fokus auf die Projekte
Der Hertie-Stiftung war es wichtig, die mediale Aufmerksamkeit auf die Projekte zu lenken. Dafür sind die Organisatoren mit einem Integrationsbus quer durch Deutschland gefahren und haben in Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main und Essen haltgemacht. Im Umkreis dieser vier Orte sind die meisten Projekte angesiedelt. „Dadurch haben wir Kommunikationsanlässe für lokale Medien geschaffen und in zehn Wochen über 600 Medienberichte erzeugt“, sagt Werner. Ein weiterer Vorteil: Mit der Nominierung und Prämierung geht ein Qualitätssiegel und Vertrauensvorschuss für die Projekte einher. Durch das Crowdfunding wird zudem eine Community aufgebaut, die weitere Unterstützung ermöglicht, sei es in Form von Spenden oder ehrenamtlichem Engagement. „Davon profitieren die Projekte langfristig“, sagt Werner.
Ziel war es, die „Perlen unter den Projekten zu finden“. Dafür sind eine zielgruppengerechte Ansprache und eine niedrigschwellige Antragsmöglichkeit wichtig. „Die sozialen Medien sind in unserem Fall die richtigen Kanäle, und auch Crowdfunding findet online ohne kompliziertes Anmeldeverfahren oder Vorschlagsrecht statt“, sagt Werner. Nichtsdestoweniger müsse der Auswahlmechanismus transparent und nachvollziehbar sein, damit man gegenüber der Öffentlichkeit und den anderen Bewerbern nicht in einen Rechtfertigungsdruck gerate. Auch aus gemeinnützigkeitsrechtlichen Aspekten ist die Transparenz oberstes Gebot. „Letztlich muss die Ausgestaltung von Preisverleihungen zum Ziel der Organisation passen“, sagt Werner.
www.deutscher-integrationspreis.de
www.nebenan-stiftung.de
Dieser Beitrag erschien in DIE STIFTUNG 5/2018.