Dem Arabischen Frühling hat Marokko viel zu verdanken – auch ein klares Bekenntnis des Staates zur Förderung von Menschen mit Behinderung. Doch sind die kulturellen Vorbehalte damit nicht verschwunden. Ebenso gibt es Fördereinrichtungen, deren finanzielle Situation sehr unsicher ist.

Dem Arabischen Frühling hat Marokko viel zu verdanken – auch ein klares Bekenntnis des Staates zur Förderung von Menschen mit Behinderung. Doch sind die kulturellen Vorbehalte damit nicht verschwunden. Ebenso gibt es Fördereinrichtungen, deren finanzielle Situation sehr unsicher ist.
Von Gregor Jungheim

 

6. Oktober

Szenen wie diese sollen sich in Marokko immer häufiger abspielen: Mütter stehen mit ihren Kindern mit Behinderung vor den Schultoren und bitten darum, das Kind aufzunehmen. Denn sie haben gehört, dass dies jetzt möglich sein soll. Für die Direktoren ist so etwas häufig eine unangenehme Situation, denn während sie angehalten sind, Kinder mit Behinderung aufzunehmen, sind die Schulen darauf in den wenigsten Fällen eingerichtet. Das Problem ist dabei weniger geistige, sondern eher Körperbehinderung, denn die meisten Lehranstalten sind nicht barrierefrei.

Marokko

Baala Mohamed, Repräsentant des marokkanischen Bildungsministeriums, erklärt Großspender Thomas Peters (l.) die veränderte Situation für Schüler mit Behinderungen. Foto: Gregor Jungheim

Noch vor einigen Jahren war die Lage in Marokko eine ganz andere, berichtet uns Baala Mohamed, Repräsentant des marokkanischen Bildungsministeriums. „Obwohl jede vierte Familie im Land ein behindertes Familienmitglied hat, galt eine Behinderung lange Zeit als Schande. Die Kinder wurden versteckt und verleugnet. Hatten die Eltern mehrere Kinder, widmeten sie ihre Aufmerksamkeit ganz dem gesunden Nachwuchs.“ „Es war sogar üblich, dass sich Männer von ihren Frau scheiden ließen, wenn sie ein behindertes Kind zur Welt brachte“, ergänzt Fatima Ahechmoud, Regionalleiterin von Handicap International.

Wir sind in Agadir,  einer 600.000 Einwohner zählenden Hafenstadt im Westen des Landes. Dort besuchen wir Education Inclusive: sur les bancs de l‘inclusion, ein Projekt für inklusive Schulbildung. Doch Kinder finden wir dort nicht, denn die Einrichtung wird gerade als Wahllokal für die morgigen Parlamentswahlen vorbereitet. Deshalb haben alle Schüler heute einen Tag frei. Die Klassenzimmer sind abgeschlossen, auch die Bäume und Sträucher und der kleine Teich mit graubraunem Wasser sehen verwaist aus. So besteht die Gelegenheit, uns von höchster staatlicher Stelle allgemein über die Verbesserung der Situation von Menschen mit Behinderung informieren zu lassen.

Marokko

Die 600.000-Einwohner-Stadt Agadir ist auch im Oktober noch ein beliebtes Ziel für europäische Touristen. Foto: Gregor Jungheim

Bedingt durch Heirat innerhalb von Familienverbünden und schlechten Zuständen bei der Geburtshilfe leiden 6% der Bevölkerung unter Behinderungen, also rund 2 Mio. Marokkaner. Zunächst waren es Elterninitiativen, die versuchten, auf deren Lage aufmerksam zu machen. Große Veränderungen brachte 2011 der Arabische Frühling. Die Regierung des stark monarchistisch geprägten Landes unterzeichnete in jenem Jahr die UN-Behindertenrechts-Konvention. Seither arbeiten auch in den Ministerien Menschen mit Behinderung, was eine wichtige Signalwirkung hatte. Der  nächste Schritt ist, gemeinsam mit UNICEF und Handicap International die Schulstatuten zu ändern, damit alle Kinder zusammen lernen können. Hierfür müssen allerdings nicht nur Lehrer für den Unterricht in Inklusionsklassen ausgebildet werden. Es fehlt auch an Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Sozialarbeitern.

Doch selbstverständlich wird es auch bei optimaler Förderung nicht möglich sein, Kindern mit schweren geistigen Behinderungen lesen, schreiben und rechnen beizubringen. Es ist deshalb vorgesehen, die Schüler zunächst in Integrationsklassen zu unterrichten, um ihre Fähigkeiten auszubilden. Wer mithalten kann, wird in eine Inklusionsklasse hochgestuft. Maximal drei Jahre dürfen die Kinder in der Integrationsklasse verbleiben. Wer danach nicht hochgestuft werden kann, wird in anderen Einrichtungen weiter betreut.

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