Inklusion auf einem Schulhof mitten in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba: Arm in Arm gehen Sekina und Aster in die Pause. Die beiden Teenager in der blau-gelben Uniform tuscheln vertraulich, sie sind Freundinnen. Aster hat sich fest bei Sekina untergehakt. Die 14-Jährige führt ihre Altersgenossin sicher über den lärmenden Schulhof zur Essensausgabe, vorbei an einer Gruppe fußballspielender Jungen. Aster ist blind. Und Sekina hilft ihr, wo immer es geht im Schulalltag. Aber auch Sekina hat viel von ihrer blinden Freundin gelernt. „Sie zeigt mir jeden Tag, was man mit einem starken Willen alles erreichen kann“, sagt Sekina bewundernd. „Denn sie selbst muss sich alles so hart erkämpfen.“
An der German Church School in Addis Abeba ist Inklusion täglich gelebte Praxis. Und das, obwohl es in einem Land wie Äthiopien alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist, dass Kinder mit und ohne Behinderung Kontakt haben. „Häufig werden die Kinder von ihren Eltern versteckt“, erklärt Teklu Tafesse. Der Äthiopier ist seit 23 Jahren Direktor der Schule. „Behinderung wird vielfach leider noch immer als eine Strafe Gottes gesehen“, fügt er hinzu.

Gemeinsam Spaß haben, egal ob mit Behinderung oder ohne – das ist gelebte Inklusion. Foto: CBM
Weniger als zehn Prozent der betroffenen Kinder gehen in dem tief religiösen Land überhaupt zur Schule. Das will die German Church School ändern. Gegründet wurde sie vor 48 Jahren von der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde, zunächst für Kinder aus sehr armen Familien der umliegenden Slums. Später öffnete sich die German Church School, in der ausschließlich Äthiopier arbeiten, auch für blinde und sehbehinderte Kinder. Sie wird von zahlreichen, auch deutschen, Nichtregierungsorganisationen unterstützt, darunter die Hilfsorganisationen Christoffel-Blindenmission (CBM) und Kindernothilfe sowie die finnische Nichtregierungsorganisation Interpedia.
Kinder gegen Vorurteile
Knapp 500 Kinder besuchen derzeit die German Church School. Jedes Jahr werden 36 Schüler neu aufgenommen, acht von ihnen mit Behinderung. Die Schule richtet sich vorwiegend an blinde und sehbehinderte Kinder, aber neuerdings können dort auch Kinder mit anderen Behinderungen den Unterricht besuchen. Am Anfang eines jeden Schuljahres werden ein Kind mit und eines ohne Beeinträchtigung zu einem Team verbunden. Das dient zum einen der praktischen Hilfe im Alltag. Gleichzeitig fördert es Freundschaften und Verständnis füreinander. Denn die Kinder entwickeln erst gar keine Berührungsängste. „Meist gehen sie selbst gegen bestehende Vorurteile vor“, berichtet der Rektor stolz. „Sie erklären ihren Verwandten und Nachbarn zu Hause, dass ihre blinden Freundinnen und Freunde gar nicht anders sind, sondern dass der einzige Unterschied darin besteht, dass sie nicht sehen können.“ Alle Kinder werden bis zur achten Klasse nach äthiopischem Lehrplan unterrichtet. Für die blinden und sehbehinderten Kinder gibt es außerdem Spezialkurse, beispielsweise EDV-Trainings oder Unterricht in Brailleschrift. Regelmäßig besuchen die Sozialarbeiter der Schule die Kinder und ihre Eltern zu Hause. Sie prüfen die familiäre Situation und helfen, die Lernsituation des Kindes zu verbessern.
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Inklusion ist gut für die Wirtschaft
Die Erfahrungen, die man in Addis Abeba mit der gelebten Inklusion gemacht hat, sind gut: Viele der Absolventen mit Beeinträchtigung schaffen den Sprung an die Universität. So wie Geletaw Mulu. Heute ist der 36-Jährige ein angesehener Anwalt. Der Sohn eines Bauern aus dem äthiopischen Hochland erblindete, als er acht Jahre alt war. Von Verwandten aus Addis Abeba erfuhr er damals von der German Church School. Der Junge wurde aufgenommen und ist bis heute ein Vorbild für viele. Denn er schloss nicht nur die Schule als bester Absolvent seines Jahrgangs ab. Er war auch der erste sehbehinderte Student, der an einer äthiopischen Universität Aufnahme fand. Doch es wurde ein steiniger Weg. Zum Jurastudium schickte man Geletaw Mulu ins 900 Kilometer entfernte Mekele. „Damals gab es weder Materialien in Brailleschrift noch sonstige Unterstützung für Menschen mit Behinderungen“, berichtet Geletaw Mulu.
Von dem Stipendium, das ihm die German Church School finanzierte, bezahlte er andere Kommilitonen – sie lasen ihm Unmengen von Texten vor, die er fürs Studium brauchte. Heute kann Geletaw Mulu als Anwalt seinen Lebensunterhalt gut bestreiten, ist verheiratet und hat drei Kinder. Sein Beispiel zeigt, wie inklusive Bildung gerade auch in der Entwicklungsarbeit nicht nur das Leben der Betroffenen selbst, sondern die Gesellschaft als Ganzes bereichern kann. Denn Menschen mit Behinderungen, die – wie Geletaw Mulu – finanziell ein unabhängiges Leben führen, verursachen geringere Kosten für die Gemeinschaft und tragen selbst zur wirtschaftlichen Entwicklung bei.
Das belegt auch eine Untersuchung des „International Centre for Evidence in Disability“ an der London School of Hygiene & Tropical Medicine. Die Studie trägt wesentliche Forschungsergebnisse zum Thema zusammen und schafft so erstmals eine solide Datengrundlage, um den bisher angenommenen Kreislauf von Armut und Behinderung zu untermauern.
Das Ergebnis zeigt: Inklusion zahlt sich auch wirtschaftlich aus. Denn die Betroffenen beanspruchen ihre Familien weniger, wodurch die Angehörigen mehr Zeit haben, einem Beruf nachzugehen. Das kommt der Gesellschaft insgesamt zugute, kann die Steuereinnahmen und das Bruttosozialprodukt steigern – in Ländern niedrigen und mittleren Einkommens sogar um bis zu sieben Prozent. Was es umgekehrt bedeutet, wenn Familienmitglieder, die Menschen mit Behinderungen zu Hause betreuen, nicht arbeiten gehen, zeigen Erhebungen etwa am Beispiel von Bangladesch. Dort beträgt der jährliche gesamtwirtschaftliche Einkommensverlust laut einem Bericht der Weltbank durch solche Betreuungstätigkeiten rund 234 Millionen US-Dollar pro Jahr.
Modellschule für Äthiopien

Auch der Sportunterricht findet an der German Church School gemeinsam statt. Foto: CBM
Inklusive Projektarbeit in Entwicklungsländern stößt allerdings immer wieder an Grenzen. Die German Church School in Addis Abeba ist davon nicht aus genommen: „Viele verlassen unsere Schule mit hervorragenden Abschlüssen“, sagt Rektor Tafesse. „Dann aber haben sie an den weiterführenden staatlichen Schulen oft mit Schwierigkeiten zu kämpfen.“ Es fehle an inklusiven Unterrichtsmaterialien, speziell ausgebildeten Lehrkräften und Barrierefreiheit.
Die German Church School unterstützt ihre ehemaligen Schüler daher auch weiterhin. Zum Beispiel bietet sie ihnen jeden Samstag persönliche Beratung an. Sie gilt als Modellschule für ganz Äthiopien. Ein Vorzeigeprojekt, das die Verantwortlichen gerne ausweiten möchten.
Hürden der Projektarbeit
Die Realität der meisten Menschen in Äthiopien, einem der ärmsten Länder der Welt, aber ist eine andere. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung leben auf dem Land: „Und dort gehen häufig 60 bis 70 Kinder in eine Klasse“, berichtet Francesco Giulietti, der das Landesbüro der CBM in Äthiopien leitet. „Unter solchen Bedingungen ist es nahezu unmöglich, Kinder mit Behinderungen einzugliedern, vor allem, wenn es sich um schwere oder Mehrfachbehinderungen handelt.“
Bei der Umsetzung von Projekten vor Ort gibt es jedoch auch andere Hürden: Die CBM erreicht mit ihrer Arbeit die Ärmsten der Armen, ist daher vor allem in abgelegenen Gebieten tätig. „In solchen Regionen ist es grundsätzlich besonders schwierig, qualifizierte Mitarbeitende zu finden und zu halten“, berichtet Giulietti. Häufig sei es so, dass diese nach dem absolvierten Trainingsprogramm in größere Städte abwanderten, wo sie bessere Jobperspektiven sähen.
Die lokalen Partner, mit denen man zusammenarbeite, seien zudem unterschiedlich stark. „Sie alle sind sehr gut, wenn es darum geht, Projekte vor Ort zu implementieren, die das Leben von Menschen mit Behinderungen verbessern“, sagt er. Einige der Partner aber hätten große Schwierigkeiten, den Anforderungen, die CBM an das Reporting stellt, gerecht zu werden.
Barrieren im Flüchtlingslager erschweren Inklusion
Auch ethnische Konflikte können in einem Vielvölkerstaat wie Äthiopien das Wirken von NPO beeinträchtigen – zum Beispiel weil sie die Reisetätigkeit im Land einschränken. Besonders schwierig gestaltet sich inklusive Bildungsarbeit jedoch in Flüchtlingsgebieten. Denn in den Camps sind die Barrieren für Menschen mit Behinderungen oft noch um ein Vielfaches größer. Sie können sich auf dem unwegsamen Gelände besonders schlecht bewegen. Bei vielen von ihnen kommen auch psychische Beeinträchtigungen hinzu – ausgelöst durch den Verlust der Heimat oder durch Traumata vor oder auf der Flucht. Das gilt besonders für Kinder. Zahlen der UN über afghanische Flüchtlingskinder in Pakistan zeigen: Nur ein Viertel der Kinder mit psychischen Beeinträchtigungen geht zur Schule. Der Anteil bei den Kindern ohne Behinderung ist doppelt so hoch. Deshalb legt die CBM etwa bei ihren Projekten für Rohingya-Flüchtlinge in Bangladesch großen Wert darauf, dass auch die Bildungsangebote inklusiv sind.
Wieder Kind sein dürfen
In einem von CBM betriebenen „Child Friendly Space“, einer Art Kindertageszentrum, finden derzeit 105 Kinder mit und ohne Behinderungen einen sicheren Raum, in dem sie spielen und ihre traumatischen Erlebnisse verarbeiten können. Viele von ihnen haben Gewalt erlebt oder gesehen, wie Familienmitglieder gestorben sind. Einfache Dinge wie mit anderen teilen oder in einer Reihe stehen sind für diese Kinder deshalb echte Herausforderungen. Schrittweise lernen sie in diesen Zentren, wieder gemeinsam zu spielen, Regeln zu befolgen und zuzuhören: wichtige Voraussetzungen für den Schulbesuch – und um wieder Kind sein zu können.
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Zur Autorin: Cornelia Derichsweiler ist Pressereferentin der Christoffel-Blindenmission (CBM) Deutschland.