Zu Fuß wird der Schulweg in Simbabwe schnell zur gefährlichen Falle. Das weiß Leah Missbach Day heute. Denn wenn ein Mädchen alleine viele Kilometer durch abgelegene Gebiete gehen muss, sind sexuelle Belästigungen oder Vergewaltigungen nicht selten. Und: Zu Fuß ist man langsamer. Wer es nicht rechtzeitig zur Schule schafft, wird oftmals den langen Weg wieder nach Hause geschickt, geschlagen oder anderweitig bestraft.
Doch all das wusste Missbach Day noch nicht, als ihr Engagement 2004 begann. Damals ging es ihr und ihrem Ehemann F.K. Day darum, den Tsunami- Opfern in Sri Lanka zu helfen. Sie reisten hin, sprachen mit Hilfsorganisationen vor Ort, boten Unterstützung an. Und zwar in Form von Fahrrädern.
23.351 Fahrräder
Fahrräder nach einem Tsunami? Genau. F.K. Days Fahrradunternehmen Sram war der Auslöser. Die Verknüpfung lag nahe. Man wollte die Menschen beim Wiederaufbau unterstützen und hatte in der Heimat – Chicago, USA – Spenden gesammelt. Dann reisten die beiden nach Sri Lanka und nahmen Kontakt mit Hilfsorganisationen auf, die ihnen zu verstehen gaben: Die Menschen brauchen Mobilität. Wieso also nicht die Spenden in Form von Fahrrädern unter die Leute bringen?
Doch sie stießen mit ihrer Fahrradidee erstmal auf viele taube Ohren. Bis das internationale Kinderhilfswerk World Vision sie ernst nahm. 23.351 Fahrräder – wenn man das liefern könne, wäre wirklich geholfen, erhielt das Ehepaar Day die Info. „Das war dann doch mehr, als wir vorgehabt hatten“, lacht Missbach Day heute bei der Erinnerung. Eine schnelle Entscheidung musste her. Die Days reisten zurück in die USA, sammelten mehr Gelder, organisierten den Kauf der Fahrräder von einer lokalen Fahrradmarke in Sri Lanka – Lumala – und: Zwölf Wochen später warteten 24.000 Fahrräder in dem südasiatischen Land darauf, verteilt zu werden.
„Die Rückmeldungen waren überwältigend positiv“, erinnert Missbach Day sich. „Phase eins nach einer Katastrophe, so lernten wir, besteht darin, medizinische Nothilfe zu leisten, Menschen aus den Trümmern zu retten, Notunterkünfte und Nahrungsmittel bereitzustellen“, erklärt die 62-Jährige. In Phase zwei gehe es dann um den Wiederaufbau. „Und da sind die Fahrräder Gold wert“, strahlt sie. „Menschen konnten dank den Fahrrädern

Missbach Day liebt die Arbeit vor Ort. Ihr Notizbuch ist dabei ihr ständiger Begleiter. Foto: World Bicycle Relief
wieder zur Schule gehen, zu ihren Jobs zurückkehren oder Material für den Aufbau von Häusern transportieren.“
Doch dabei blieb es nicht. Es blieb weder beim einmaligen Engagement in Sri Lanka noch bei der Katastrophenhilfe. Und es blieb auch nicht beim Aufkaufen und Verteilen von Fahrrädern anderer Marken, die qualitativ nicht den Vorstellungen der Days entsprachen. 2005 gründeten die beiden deshalb World Bicycle Relief (WBR), Anfang 2008 wurde das hauseigene Buffalo Bike entwickelt – extra stabil, um langfristig gute Dienste zu leisten und schwere Lasten zu tragen –, und nach und nach ist ein Netz an Zulieferern und von WBR ausgebildeten Mechanikern entstanden, wodurch die Fahrräder vor Ort in Schuss gehalten werden können.
„Das Bauen qualitativer Fahrräder mit einer effizienten Supply-Chain – das sind genau F.K. Days Themen“, berichtet Missbach Day. Bei Fahrrädern wisse er ganz genau, was er tue, weshalb er auch oft im Zentrum der Aufmerksamkeit stünde. Aber die Geschichten hinter den Fahrrädern nach außen tragen, fernab von technischen Details, und Menschen damit berühren – „das kann er nicht so gut“.
Missbach Day: Versagensängste überwinden
Das wurde zu Missbach Days Aufgabenbereich. Als Dokumentarfotografin hielt sie von Beginn an die Erfahrungen und Aktivitäten per Kamera fest. „Ich erzähle Geschichten mit meinen Bildern“, sagt sie. Selbst im Mittelpunkt zu stehen und mit diesen Geschichten nach außen an potentielle Unterstützer heranzutreten, fiel aber auch ihr lange Zeit schwer.
Von Versagensängsten und Perfektionismus geplagt, war sie im Laufe ihres Lebens immer mal wieder vor Herausforderungen zurückgeschreckt. Als kleines Mädchen sei sie so schüchtern gewesen, dass es ihr sogar schwerfiel, andere Menschen zu grüßen. Ein Tipp ihrer Mutter hat die Wende gebracht und sie wohl bis heute geprägt: „Sei neugierig und stell Fragen“, habe diese ihr geraten. „Lass die Menschen von sich selbst erzählen.“ Also begann die junge Missbach Day Fragen zu stellen – und überwand so ihre Scheu.
Bis heute ist das ihr wichtigstes Werkzeug: neugierig sein und Fragen stellen. Und die Menschen öffnen sich ihr, vertrauen sich ihr an. So baut sie enge Bindungen mit den Leuten vor Ort auf, erfährt von deren Sorgen, Ängsten, Hoffnungen und Glücksmomenten. Diese Geschichten und Informationen sind wertvoll – nicht nur für die Öffentlichkeitsarbeit von WBR, sondern auch für die gesamte weitere Arbeit der Organisation.
Nur so weiß man, was die Menschen wirklich brauchen. Zum Beispiel, dass die Fahrräder für die Sicherheit der Mädchen wichtig sind. Oder dass die Männervariante des Buffalo Bikes beliebter ist, weil stabiler als das Damen-Modell. Und nur so kann man auf Bedürfnisse reagieren. Heute gibt es ein stabiles Unisex-Buffalo-Fahrrad – beliebt bei allen.
Missbach Day will Mädchen eine Stimme geben
Ihr Talent, Momente und Geschichten zu sehen und einzufangen, hat Missbach Day im Jahr 1994 in ein Fotografie-Studium gegossen. Sie war damals mit F.K. Day nach San Diego, Kalifornien, gezogen, um bei ihm zu sein. Aber auch, weil – nach einem Erststudium in Marketing, Selbständigkeit als Stylistin und Näherin und eine

Kolumbien, 2020: Vor laufender Kamera entspannt zu bleiben, musste Missbach Day erst lernen. Foto: Lena Kleine Kalmer
m Job in der Werbeindustrie – etwas in ihr sich nach mehr Sinnhaftigkeit in der Arbeit sehnte. Die Arbeit in der Werbeindustrie habe zwar viel Spaß gemacht, aber: „Da fließen unglaubliche Summen Geld, Kreativität und Aufmerksamkeit in einen Werbespot. Und letztendlich geht es nur darum, Pommes zu verkaufen.“ Das passte nicht in ihr Weltbild.
Die Geschichten, die sie als Dokumentarfotografin erzählt, sind andere. Da ist Mary aus Kenia, die dank ihrem Buffalo Bike keinen Esel mehr mieten muss, um Wasser für die Familie zu holen, und somit Unmengen Geld spart. Oder junge Mädchen, die sich endlich trauen, eigene Wünsche und Vorstellungen zu entwickeln und zu äußern. „Und weißt du, was diese Mädchen sich wünschen? Erst ein paar Jahre später zu heiraten oder Kinder zu kriegen. Die Schule zu beenden. Oder am Wochenende Lerngruppen zu besuchen.“
Missbach Days Herz schlägt für die Arbeit vor Ort. „Dort kann ich wirklich sehen, was unsere Fahrräder bewirken“, sagt sie. 2015/16 lebte sie mit F.K. Day und ihrem gemeinsamen, damals zehnjährigen Sohn sogar eine Zeitlang in Kenia, einem von inzwischen sechs Programmländern in Afrika und Lateinamerika. „In dieser Zeit konnte ich noch mal ganz anders mit den Menschen in Verbindung treten“, erinnert sie sich. Nach sieben Monaten zog die kleine Familie zurück in die USA, mindestens einmal im Jahr aber reist Missbach Day weiterhin in die Programmländer.
Social Enterprise inklusive
Obwohl F.K. Day und sie heute nicht mehr verheiratet sind, geht das gemeinsame Engagement weiter. Und sie sind inzwischen längst nicht mehr allein. 176 Mitarbeiter zählt WBR heute. 2.341 Mechaniker sind ausgebildet, mehr als 519.500 Fahrräder ausgegeben worden – im Rahmen eines Bildungsprogramms an Schülerinnen und Schüler, im Gesundheitsbereich an Pflegerinnen und Pfleger. Fahrräder, die nicht nur Transportmittel, sondern auch Botschafter sind. Sie sollen Menschen dazu motivieren, mobil zu werden, und dazu beitragen, dass das Fahrrad hierfür als Chance wahrgenommen wird.
WBR ist inzwischen keine reine Non-Profit-Organisation mehr. Im Jahr 2008 kam ein sozialunternehmerischer Ansatz dazu, weil die Nachfrage nach den Rädern vor Ort immer größer wurde: Das Social Enterprise „Buffalo Bicycles Ltd.“ – eine hundertprozentige Tochter von WBR – ermöglicht es heute Unternehmen, Privatpersonen, NGOs oder lokalen Regierungen, Buffalo Bikes käuflich zu erwerben. Der Gewinn fließt in WBR zurück. Und das wiederum fördert das gesamte Netzwerk an Mechanikern und den Verkauf von Ersatzteilen vor Ort.
Um an diesen Punkt zu gelangen, waren Ausdauer, Mut und ein fester Glaube an sich selbst und die Organisation notwendig. Raum für die schüchterne Leah Missbach Day von früher gab es da kaum. „Ich habe gelernt, mir klare Ziele zu setzen und Unsicherheiten oder negative Emotionen – wenn sie doch zwischendurch wieder hochkommen – beiseitezuschieben. Ich trenne das heute voneinander und mache einfach weiter“, verrät Missbach Day ihr Geheimnis. „Viel zu viele Menschen lassen sich von Ängsten aufhalten.“ Sie aber weiß inzwischen: „Wenn ich etwas nicht ausprobiere, fühlt sich das schlimmer an als die Angst zu versagen. Also tue ich es einfach.“