Der Psychologe Mark Terkessidis beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Rassismus und weiß: Menschen kategorisieren Menschen. Probleme entstehen, wenn gesellschaftliche Strukturen das Ausschließen bestimmter Kategorien legitimieren.

Herr Terkessidis, die „Black Lives Matter“-Bewegung entstand in den USA. Was halten Sie davon, dass sie auch in Deutschland angekommen ist?

Mark Terkessidis: Ich finde es gut, wenn die Bewegung auch hier erfolgreich ist, plädiere aber dafür, mehr zu differenzieren. Das Schwarz/Weiß-Modell aus den USA kann man nicht eins zu eins übertragen. Ich muss, wenn ich über Rassismus spreche, immer die jeweilige Gesellschaft im Blick haben.

Wie also sieht Rassismus in der deutschen Gesellschaft aus?

Terkessidis: Der Begriff des Rassismus wird in Deutschland oft mit Gewalt und Rechtsextremismus assoziiert. Rassismus ist aber auch ein Alltagsphänomen, das sich manchmal viel dezenter äußert. Hinter Sätzen wie „Ich habe ja nichts gegen Ausländer, aber …“ stecken oft rassistische Einstellungen.

Rassistische Einstellungen, Rassismus: Können Sie genauer erläutern, was darunter zu verstehen ist?

Psychologe Mark Terkessidis ist freier Autor und Migrationsforscher und hat seine Promotion in Pädagogik zum Thema Rassismus abgeschlossen. Sein neuestes Buch „Wessen Erinnerung zählt – Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute“ ist 2019 erschienen. Foto: Andreas Langen

Terkessidis: Ich sehe Rassismus als eine illegitime Spaltung zwischen „uns“ und „ihnen“. Wenn Menschen andere Menschen „rassifizieren“, legen sie Gruppen fest und treffen Aussagen über sie. In der Psychologie sprechen wir von Stereotypisierung – also dem Ordnen nach Kategorien. Das ist menschlich und gar nicht zu vermeiden. Es geht darum, wen und wie wir stereotypisieren. Theorien über Rassismus sagen nicht, es gebe keine Unterschiede. Bei Rassismus spielen aber Unterschiede eine Rolle, die gar nicht existieren oder nicht von Bedeutung sind. Dass rassistische Wissensbestände in der Gesellschaft existieren, ist letztendlich ein hunderte Jahre altes Phänomen. Ich spreche bewusst nicht von Vorurteilen, um klarzumachen, dass es kein Problem von verirrten Einzelnen ist. Rassismus hat immer auch eine strukturelle Seite: Menschen werden in ein System einbezogen und gleichzeitig ausgeschlossen oder benachteiligt, sei es bei der Zuteilung von Gütern oder beim Zugang zu Bildung oder Gesundheitsversorgung.

Können Sie das an einem Beispiel veranschaulichen?

Terkessidis: Beispielsweise sind in den 60er Jahren sogenannte Gastarbeiter angeworben worden, um unqualifizierte Industriearbeit zu leisten. Sie hatten nur zu bestimmten Segmenten des Arbeitsmarkts Zutritt. Sehr schnell hat sich der Begriff „Ausländerjobs“ im Sprachgebrauch etabliert. Die Eigenschaften der Arbeit – einfach und zweitrangig – wurden dann den Personen zugeschrieben, die sie verrichteten, griechischen oder türkischen Einwanderern etwa. Der Ausschluss ging aber noch weiter: Die „Gastarbeiter“ durften auch nach langem Aufenthalt keine deutschen Bürger werden, also nicht mitbestimmen. Solche Ausgrenzungen darf es in einer Demokratie nicht geben. Alle Einwohner sollten alles machen können und auch alle Rechte haben.

Sollte es im Kampf gegen Rassismus also vor allem um strukturelle Veränderungen gehen?

Terkessidis: Genau. Nehmen wir als Beispiel Racial Profiling bei der Polizei – also das Ermitteln und Agieren auf Grundlage äußerlicher Merkmale statt wirklicher Verdachtsmomente: Mir ist egal, was jeder einzelne Polizist denkt. Mir ist wichtig, dass die Handlungs- und Wahrnehmungsroutinen so organisiert sind, dass es kein Racial Profiling mehr gibt. Denn: Was sind Hautfarbe oder Herkunft bitteschön für Ermittlungskriterien?

Manche sagen, hinter Rassismus stecke Angst vor dem Fremden. Sehen Sie das auch so?

Terkessidis: Die Angst vor dem Fremden erklärt in meinen Augen gar nichts. Im Gegenteil: Das Problem ist, dass wir glauben, wir würden über die anderen viel wissen, doch dieses Wissen speist sich aus kolonialistischem Gedankengut oder Stimmen aus Politik und Medien, die die Migration unentwegt als Problem darstellen. Erstmal geht es also darum zu verlernen, um dann Leute als Individuen sehen zu können, nicht als Exemplare von Herkunftsgruppen.

Sie sind Beirat des Netzwerks „Schule ohne Rassismus. Schule mit Courage“. Kann es das wirklich geben: eine Schule oder eine Welt ohne Rassismus?

Terkessidis: Ich werde die Abschaffung von Rassismus nicht erleben. Dafür ist er zu tief in den Strukturen der Gesellschaft verankert. Wir können aber versuchen, Ungleichheitsverhältnisse und Diskriminierungen zu mildern. Und da stehen Schulen im Vordergrund. Es ist wichtig, dass dort darüber gesprochen wird. Ein Schritt in die richtige Richtung wäre es zum Beispiel, wenn Mehmet oder Nadia nicht mehr durch Stereotypisierungen benachteiligt würden und dieselben Chancen hätten, für das Gymnasium empfohlen zu werden, wie Anna oder Paul.

Wie können Stiftungen solche Entwicklungen unterstützen?

Terkessidis: Ich glaube, dass eine Organisationsveränderung in einer Stiftung am nachhaltigsten ist. Ich würde deshalb mit der Umstrukturierung des eigenen Betriebs anfangen. Eine Stiftung sollte sich fragen, ob die aktuelle Zusammensetzung der Gesellschaft in ihren Strukturen wiederzufinden ist, wie die Rekrutierungsprozesse von Mitarbeitern ablaufen, ob Menschen mit Migrationshintergrund dieselben Chancen haben, zu Bewerbungsgesprächen eingeladen zu werden, oder was man selbst tut, um im eigenen Betrieb Gleichbehandlung umzusetzen.

In Ihrem Buch „Nach der Flucht. Neue Ideen für die Einwanderungsgesellschaft“ sprechen Sie von einem „Vielheitsplan“ – können Sie diesen erläutern?

Terkessidis: Den Vielheitsplan habe ich entwickelt, weil ich den Begriff „Integration“ absolut kontraproduktiv und überhaupt nicht zeitgemäß finde. Bei Integration gibt es immer ein „Wir“ und ein „Sie“, es gibt angeblich die „Richtigen“, die schon immer da waren, und die „Dazugekommenen“, die noch Schwierigkeiten haben und Defizite aufweisen. Integration heißt dann: Wir machen allerlei Sondermaßnahmen für die, die angeblich Probleme machen. Ich finde aber, wir brauchen einen Perspektivwechsel und sollten uns eher fragen, ob unsere Institutionen fit sind für die neue Vielheit der Gesellschaft. Ich nenne es bewusst „Vielheit“, denn der Begriff betont die neue Zusammensetzung der Bevölkerung, die neue Realität. In Stuttgart haben Dreiviertel der Kinder, die bald zur Schule gehen, mindestens einen Elternteil, der eingewandert ist. Die Frage ist also: Wie stelle ich mich darauf ein?

Ist Vielheit gleichzusetzen mit Vielfalt?

Terkessidis: Nein. Vielfalt ist eine Verniedlichung. Wir – die guten „Nicht-Rassisten“ – erklären immer, dass Vielfalt bereichernd ist. Eine Quelle von Austausch und Kreativität. Aber jemand, der plötzlich neben 500 neuen Flüchtlingen wohnt, erlebt dadurch erstmal keine Bereicherung, sondern einen Vertrauensverlust. Dabei ist es egal, ob die Leute aus Syrien kommen – sie könnten auch aus einem anderen Bundesland sein. Vielfalt kann gehörig auf die Nerven gehen. Aber die neue Realität ist wie sie ist, und darauf müssen wir uns einstellen. Da sehe ich einen großen Mangel in Deutschland, eine große Angst vor Veränderung. Oft führt in der Verwaltung zum Beispiel mangelndes Wissen über Bedingungen in den Herkunftsländern von Migranten zu Störungen, wenn dadurch Dokumente verlangt werden, die es gar nicht gibt. Im Vielheitsplan geht es darum, Regelbetriebe strategisch anzupassen und innovative Antworten zu finden. Wir dürften uns ruhig mal an größere Reformen wagen.

 

 

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