Fast wäre Rainer Roos bei der Gründung der Bright Mountain Dental Clinic im indischen Ladakh an Zollproblemen gescheitert. Fast mussten die acht Container, die die in Einzelteile zerlegte Klinik enthielten, an der Grenze Indiens kehrtmachen, ohne jemals ihr Ziel erreicht zu haben. Fast wären all das investierte Geld und Engagement umsonst gewesen.
Aber eben nur fast. Denn so leicht gibt Zahnarzt Rainer Roos sich nicht geschlagen. Heute setzt sich die Zahnklinik für die Zahngesundheit der rund 300.000 Bewohner Ladakhs ein. Armen Menschen bietet sie Basisleistungen umsonst an. Laut Roos sind das 95 Prozent der Bevölkerung. Doch bis dahin war es ein langer Weg.
Hochwüste im nordindischen Himalaya
Im Norden Indiens zwischen den Gebirgsketten des Himalaya liegen selbst die Täler auf 3.000 Metern Höhe. Die Berge ragen mehr als 7.000 Meter in den Himmel. Menschen gibt es dort nicht sehr viele. Und wer kann, zieht sich im Winter in die Tiefebene zurück. „Dann stirbt das Leben in Ladakh, und die Temperaturen erreichen nachts bis zu minus 30 Grad“, erzählt Roos.
Auch er vermeidet den Winter in Ladakh, ist aber ansonsten dreimal im Jahr dort: im Spätherbst und Frühjahr je eine Woche, im Sommer drei. Die Landschaft beschreibt der 60-jährige Zahnarzt, der schon immer am liebsten in Wüstengegenden Urlaub gemacht hat, als „unglaublich schön, eintönig und faszinierend“.

Eines der Hauptanliegen von Rainer Roos und seinen Unterstützern ist es, die Zahngesundheit der Kinder im indischen Ladakh zu verbessern. Foto: Karolina Kelemenova
Seine Liebe zu Ladakh wurde 1999 geboren. Auslöser war eine Fortbildung, die er und seine Frau – Zahnarzthelferin und Buchhalterin der gemeinsamen Zahnarztpraxis im schwäbischen Neuhausen auf den Fildern – besuchten. Ein Kollege stellte dort ein Projekt des Mahabodhi International Meditation Centre (MIMC) vor, das das Leben des Ehepaars von Grund auf ändern sollte.
„Auf Fotos sahen wir grauenvolle Zustände in Kindermündern“, erinnert Roos sich. „Nach zehn Sekunden wussten wir: Da gehen wir hin.“ Gesucht wurden Unterstützer vor Ort. Eigene Kinder haben die beiden keine, auch wenn sie die laut Roos in manchen Phasen ihres Lebens gerne gehabt hätten. Zeit, Geld und Aufmerksamkeit für so eine Reise waren also vorhanden. Und für ihre Folgen. Denn was Roos und seine Frau damals noch nicht wussten: Aus dem Projektbesuch würde eine fast fünfzehnjährige Zusammenarbeit entstehen.
Ein paar Monate nach dem gefassten Entschluss ging es los. „Es war ein magischer Moment, als ich aus dem Flugzeug stieg“, erzählt Roos heute verträumt. „Ich wusste: Hier bin ich zu Hause.“ Vier Wochen blieben Roos und seine Frau bei ihrem ersten Besuch. Einen Kulturschock erlebte der gebürtige Schwabe erst bei der Rückkehr nach Deutschland. „Ich habe die Leute mit ihren Ansprüchen hier nicht mehr verstanden“, erzählt er und lehnt sich in seiner deutschen Zahnarztpraxis nachdenklich in seinem Bürostuhl zurück. „Ich war mir nicht sicher, ob ich so einen Schock ein zweites Mal verkraften würde.“
Roos errichtet eine Klinik auf 3.500 Metern Höhe
Dennoch ließ er sich auf eine langfristige Verbindung mit dieser anderen Welt ein. Zuerst im Rahmen einer Zusammenarbeit mit dem besuchten Hilfsprojekt. Was 1978 als Meditationscenter und Alphabetisierungsprojekt begonnen hatte, mündete in den 90er Jahren in einer Klinik, die alle relevanten Fachbereiche abdeckte: Zahntechnik, Gynäkologie, Orthopädie, Chirurgie, innere Medizin. „Ein paar Jahre war die Klinik erfolgreich“, erzählt Roos.
Dann hätten finanzielle Probleme überhandgenommen. Roos erlebte beides. Nach seinem ersten Besuch war er einmal im Jahr dort. Gemeinsam mit seiner Frau versuchte er, die Klinik langfristig finanziell auf sichere Beine zu stellen. Letztendlich überwog der Frust, Jahr für Jahr mit denselben Problemen zu kämpfen und diese nicht nach seinen Vorstellungen lösen zu können. „Während unserer Abwesenheit wurde die K

Nach 13 Tagen ist es geschafft: Die von freiwilligen Handwerkern aufgebaute Bright Mountain Dental Clinic wurde 2017 in Betrieb genommen. Foto: Rainer Roos
linik von Freiwilligen aus aller Welt genutzt, selten wurden jedoch Materialien ersetzt oder Geräte gewartet. Nach 14 Jahren hatte ich einfach genug“, so Roos.
Er suchte sich einen Partner vor Ort – einen Zahnarzt aus einem SOS-Kinderdorf in der Region –, um gemeinsam eine eigene Klinik zu gründen. 2014 fiel der Beschluss, 2015 kauften Roos und seine Frau ein Grundstück – auf 3.500 Metern Höhe. Eine Zahnklinik sollte es werden. Um die vorherrschenden „mittelalterlichen Zustände in der Zahnpflege und die zahnärztliche Versorgung“ zu verbessern.
2016 gründete Roos in Deutschland die Ladakh Medical Aid gGmbH und auf indischer Seite den Bright Mountain Dental Clinic Trust als eingetragene indische Hilfsorganisationen. Ein Verein kam nicht in Frage. „Ich weiß, wie schwer es ist, sieben oder mehr Leute unter einen Hut zu bekommen“, erklärt Roos. Eine Stiftungsgründung sei ihm zu aufwendig gewesen, eine gGmbH erschien ihm genau richtig: „Nicht zu groß, nicht zu klein. Meine Frau und ich haben das Sagen, und das Gesellschaftsrecht regelt alles sauber.“
Mit Herz und Seele Unternehmer. Doch das war nicht immer so. Aus einer Zahnarztfamilie stammend, war Roos die Berufswahl aufgezwungen worden. „Hochgradig missfallen“ habe ihm das, und er habe die ersten sieben Jahre in der eigenen Praxis alles daran gesetzt zu beweisen, dass er für den Beruf des Zahnarztes nicht geeignet sei. Die Wende brachte ein Coach, der ihm das Unternehmertum nahebrachte. „Er lehrte mich, den Beruf in 360 Grad zu denken“, erzählt Roos. Patientenbehandlungen, Mitarbeiterführung, Familie, Unternehmen. Aufgrund der dadurch entstandenen Vielseitigkeit und Unabhängigkeit begann Roos, den Job zu lieben.
Heute liegt auf seinem Schreibtisch ein kleiner metallener Würfel mit der Aufschrift „FF“ aus einem weiteren Coaching. „Freude und Freiheit“, erklärt Roos. Alles, was er anpacke, tue er, um Freude und Freiheit in seinem Leben zu generieren. Meistens handelt es sich dabei um Herausforderungen und Neues. „Routinen sind für mich das Schlimmste“, erzählt Roos. Er fühle sich in Indien, wo „nie etwas läuft, wie man sich das vorstellt“, deshalb bestens aufgehoben. „Ich sauge alles auf, was neu ist. Wie ein Schwamm“, grinst er. „Solange ich nach einer neuen Erfahrung ein bisschen schlauer bin als zuvor, war es richtig.“
Eine niedrige Existenzlinie
Ob ihm die ständigen Herausforderungen denn nicht auch unheimlich seien? „Ich habe meine Existenzlinie so weit abgesenkt, dass ich selten Angst habe“, ist seine Antwort. Anhand der Existenzlinie definiere jeder Mensch individuell die Dinge, die er im Leben braucht. „Viele setzen diese viel zu hoch an“, so seine Meinung. Sein Vorbild seien dabei die Menschen von Ladakh, die ihn gelehrt hätten, wie wenig man wirklich zum Leben benötigt.

Bei den sogenannten Medical Camps leisten Roos und seine Helfer provisorische Hilfe in Nomadengebieten.
Bald soll eine mobile Zahnklinik die Behandlungsmöglichkeiten verbessern. Foto: Karolina Kelemenova
Seine Ansprüche an die Klinik waren dennoch hoch. So funktionsfähig wie eine normale deutsche Zahnarztpraxis sollte sie sein. Und gleichzeitig so einfach und leicht, dass sie in Indien von wenigen Menschen aufgebaut und instand gehalten werden kann. Von Architekten aus Dubai, Stuttgart, Karlsruhe und San Francisco, die er über den Rotary Club fand, ließ er zuerst ein modulares Konzept einer Zahnklinik entwickeln, die in einer Lagerhalle in Deutschland komplett aufgebaut und ein Jahr lang getestet wurde. Finanziert wurde dieser Testlauf aus den Ersparnissen des Ehepaars Roos. Im Anschluss wurde sie wieder in ihre Einzelteile zerlegt und in acht großen Containern nach Ladakh verschickt.
Mindestens 50 Menschen seien in Finanzierung, Konzipierung, Bau und Versand der Klinik involviert gewesen, erzählt Roos. Besonders hilfreich sei ein im Südwestdeutschen Rundfunk ausgestrahltes Telefoninterview gewesen, das viele Unterstützter zu ihm gebracht habe. 13 Freiwillige aus Deutschland bauten dann im Sommer 2017 in 13 Tagen die gesamte Klinik auf. Auf 3.500 Metern Höhe für die schwäbischen Handwerker durchaus eine Herausforderung, die sie jedoch erfolgreich meisterten: „Seitdem läuft die Klinik störungsfrei“, ist Roos stolz. Wie stolz, zeigt ein Blick in das Wartezimmer seiner Neuhauser Zahnarztpraxis, wo neben Zertifikaten, Honorierungen und Urkunden für seine Zahnarzttätigkeit in Deutschland Zeitungsartikel über die Bright Mountain Dental Clinic gerahmt an der Wand hängen.
Roos: „Indien ist die gelebte Korruption“
Doch wie zu Beginn erwähnt, wäre das gesamte Vorhaben fast an der Einfuhr der Container nach Indien gescheitert. Als „die schwierigsten Momente meines Lebens“, beschreibt Roos die Zollprobleme, die ihn finanziell fast ruiniert hätten. Und das, obwohl er mit deutscher Gründlichkeit alles minutiös geplant und abgesprochen hatte.
Doch in Indien herrschen andere Regeln, die Roos erstmal verstehen musste. „Ich bin ja auch nur ein Zahnarzt, der so seine Erfahrungen sammelt“, blickt er demütig zurück und fügt dann hinzu: „Indien ist die gelebte Korruption“ – mehr möchte Roos an dieser Stelle nicht zum Thema sagen.
Heute steht die Klinik, beschäftigt zwei Ärzte und drei Assistentinnen und schreibt laut Roos finanziell inzwischen eine „knappe rote Null“. Noch wird sie mit 25.000 Euro Spenden im Jahr unterstützt. Doch bis 2023 soll sie sich selbständig tragen: Diejenigen, die es sich leisten können, bezahlen ihre Behandlungen und finanzieren so die kostenlosen Angebote für die arme Bevölkerung mit.

In seiner Praxis in Neuhausen sprach DIE STIFTUNG im Januar zu später Stunde noch ausführlich mit Rainer Roos. Foto: Jonald Arnao
Als zusätzliche Finanzressource plant Roos gerade die Eröffnung einer Brauerei in Ladakh – ein unternehmerischer Ansatz, den er scheinbar nebenher aus dem Ärmel schüttelt, während er außerdem ein weiteres neues Projekt ankurbelt und dafür Spenden sammelt: eine mobile Zahnklinik, die er den lokalen Zahnärzten für die Behandlung in abgelegenen Nomadengebieten zur Verfügung stellen möchte. Bislang leisten er und sein Team dort im Rahmen von sogenannten Medical Camps provisorische Hilfe durch Zahnextraktionen und Aufklärungsarbeit an Schulen.
Nach Ladakh will er weiterhin dreimal im Jahr reisen – um Menschen zu behandeln und die Angestellten vor Ort weiter auszubilden. Auch freiwillige Zahnärzte werden ihn immer wieder dorthin begleiten, um die Arbeit vor Ort zu unterstützen. Und als wäre all das noch nicht genug, eröffnet er in Ulm und Augsburg gerade zwei weitere Zahnarztpraxen.
Freizeit und Beruf gehören zusammen
Was übermenschlich wirkt, scheint ihn nicht im Geringsten zu belasten. Im Gegenteil. „Ich war in den letzten dreißig Jahren nicht einmal krank“, berichtet Roos. Und das, obwohl er gerademal vier bis fünf Stunden am Tag schlafe. Befindlichkeitsstörungen ignoriere er einfach. Meistens gehe das von alleine wieder weg. „Mein Körper ist nicht hübsch, aber gut belastbar“, schmunzelt er.
Vielleicht ist sein Geheimnis aber auch die Verschmelzung unterschiedlicher Lebensbereiche. Ehe, Beruf, soziales Engagement – für ihn fließt alles ineinander über. „Eine Trennung von Beruf und Freizeit bedeutet nur Stress“, ist seine Meinung.
Der Buddhismus als Vorbild
Als Vorbild dient ihm nicht zuletzt der buddhistische Mönch Dalai Lama, dessen Palast direkt gegenüber von der Bright Mountain Dental Clinic liegt und der das Hilfsprojekt gesegnet hat. Ein Segen, der Roos viel bedeutet. „Dalai Lama ist einer der Menschen, die ich sehr bewundere auf dieser Welt, weil er so ungleich mehr bewegt, als ich das kann“, erklärt er. „Diese komplette innere Ausgeglichenheit, mit der er andere Menschen befruchtet und begeistert – daran möchte ich bei mir selbst auch noch arbeiten.“
Info
Die Bright Mountain Dental Clinic
Die von Rainer Roos 2017 gegründete Zahnklinik liegt in der Stadt Choglamsar im nordindischen Ladakh auf 3.500 Metern Höhe. Zahnbehandlungen sind dort für bedürftige Menschen kostenlos, und es wird Aufklärungsarbeit zum Thema Zahnhygiene geleistet. Um den festangestellten Zahnärzten und Assistentinnen unter die Arme zu greifen, entsendet die Ladakh Medical Aid gGmbH – die zuständige Organisation auf deutscher Seite – freiwillige Zahnärzte, Mediziner anderer Berufsgruppen und medizinische Hilfskräfte. Aktuell werden außerdem für eine mobile Zahnklinik Spenden gesammelt, die lokalen Zahnärzten die Arbeit in abgelegenen Gebieten erleichtern bzw. ermöglichen soll.