„Stiftungsarbeit hat den Auftrag,
auch mal ins Risiko zu gehen“

Die Joachim-Herz-Stiftung hat die bisherigen Fachbereiche aufgelöst und bearbeitet nunmehr vier Themencluster: „Neue Materialien und Ressourcen der Zukunft“, „Unternehmerisch denken und handeln“, „Berufliche Bildung und digitale Transformation“ und das Querschnittscluster „Transatlantische Stiftungsaktivitäten“. Was war der Impuls für die Veränderung?Sabine Kunst: Die eigene Arbeit regelmäßig in Frage stellen, sich neu ausrichten – immer mit dem Anspruch, Dinge zu verbessern – gehört zur DNA einer unternehmerisch ausgerichteten Stiftung, wie die Joachim-Herz-Stiftung es ist. Herr Müller ist das Urgestein der Stiftung, hat sie seit Beginn begleitet. Ich bin seit Januar 2022 im Vorstand. Das war ein guter Moment für einen solchen Prozess. Wir haben gesehen, dass in den letzten 15 Jahren in der Stiftung ein Stück an das nächste gebaut worden ist – wie man ein kleines Haus ausbauen würde. Es sind immer weitere kleine Elemente zu den Themenfeldern dazu gekommen, aber es war kein Platz mehr für Neues. Die Stiftung war am Ende ihres natürlichen Wachstums angekommen. Darüber hinaus gibt es in Deutschland und Europa sehr viele Stiftungen, die Individualförderung betreiben, Stipendien vergeben oder Unterstützung für Naturwissenschaften oder auch ökonomische Bildung bieten. Daher wollten wir andere Themen angehen. Wir möchten echten Impact erzeugen und gesellschaftliche Veränderungsprozesse gestalten – und daran wollen wir uns messen lassen. „Die Stiftung war am Ende ihres natürlichen Wachstums angekommen.“Prof. Sabine Kunst, Vorstandsvorsitzende Und welche Themen bearbeitet die Joachim-Herz-Stiftung zukünftig?Kunst: Unser Ziel ist es, wirksame Lösungen für aktuelle Herausforderungen wie den Klimaschutz, die Ressourcenknappheit oder den Fachkräftemangel zu schaffen. Wir setzen uns dafür ein, dass mehr Innovationen aus der Spitzenforschung in die konkrete Anwendung gelangen, und stärken unternehmerische Talente, die innovative Geschäftsmodelle entwickeln.Ulrich Müller: Wir wollen außerdem dazu beitragen, dass neue Ideen in Unternehmen wirksam werden, denn die Berufswelt wandelt sich durch KI und Digitalisierung rasant. Dafür fördern wir zukunftsrelevante Kompetenzen bei Auszubildenden, unterstützen Lehrkräfte und den Transfer digitaler Innovationen in die berufliche Bildung. Bei allen unseren Aktivitäten nutzen wir Impulse aus den USA und stärken den deutsch-amerikanischen Dialog.Hatten Sie Hilfe von außen? Wie war das Feedback?Kunst: Ja. Die Grundlage für die Transformation waren Evaluationsprozesse und verschiedene Außenperspektiven über mehrere Jahre hinweg, vor allem durch das Projekt Learning from Partners. Da gab es einiges Positives: Die Stiftung sei zum Beispiel flexibel, unternehmerisch, entgegenkommend. Auf der anderen Seite wurden wir mit dem Thema Wissenschaftsförderung eher weniger in Verbindung gebracht. Anfang 2023 war uns klar, dass wir uns in diesem Bereich neu positionieren wollten. Das heißt, wir fördern nun gezielt interdisziplinäre und anwendungsorientierte Forschungsprojekte, damit Forschungsergebnisse schneller und häufiger wirtschaftlich und gesellschaftlich nutzbar gemacht werden können. Wenn daraus dann beispielsweise eine leistungsstärkere und kleinere Solarzelle entsteht, dann ist es auch handhabbarer für die Gesellschaft, was die Stiftung eigentlich tut. Auch den bei uns sehr ausgeprägten Themenbereich Wirtschaft haben wir transformiert in Richtung eines stärkeren Praxisbezugs. Im Moment bleibt unternehmerisches Potential zu oft ungenutzt, da Talente nicht früh genug entdeckt und gefördert werden. Wir wollen den Unternehmergeist von jungen Menschen und von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern stärken, damit mehr Ausgründungen, innovative Produkte und nachhaltige Geschäftsmodelle entstehen.Müller: Auch für die Bildungsprojekte haben wir uns einer intensiven Evaluation von außen unterzogen. Als Ergebnis haben wir in diesem Bereich 75 Prozent der zum Teil sehr kleinteiligen Projekte beendet. Heute setzen wir auf größere Projekte mit mehr Gestaltungsfreiheit bei den Projektnehmern. Wir müssen als Stiftung nicht immer wissen, wie etwas genau zu machen ist, aber wir erkennen, in welchem Bereich etwas gemacht werden sollte. Wir mischen uns nicht in die Umsetzung ein, begleiten sie aber mit unserer Expertise aus Evaluation und Wirkungsermittlung.Kunst: Wir haben nicht nur Projekte eingestellt, sondern auch übergeben. Die Lernplattformen, die wir im Bereich Physik und Chemie aufgebaut haben, werden zum Beispiel über das FWU fortgeführt, das Medieninstitut der Länder. Das ist eine tolle Bestätigung für die Arbeit der letzten Jahre. Inzwischen setzen wir ganz bewusst auf eine Mischung aus Individual- und Projektförderung sowie Anreize auf systemischer Ebene. Viele unserer Projekte sind tatsächlich größer geworden. Wir finanzieren zum Beispiel ein Transferzentrum über zehn Jahre mit bis zu 30 Millionen Euro. Mit dem „Matena innovate! Center“ an der Universität Bremen möchten wir zeigen, wie systemische Transferstrukturen an Hochschulen modellhaft aufgebaut und etabliert werden können. Mit der Umsetzung vor Ort haben wir weniger zu tun, das Evaluationskonzept stammt beispielsweise vom Fördernehmer, was eine große Arbeitserleichterung bedeutet.Welche Rolle hat das transatlantische Querschnittscluster? Wie ist es entstanden?Müller: Das haben wir im Grunde immer schon gemacht. Ich habe noch kurze Zeit direkt für unseren Stifter Joachim Herz gearbeitet, der viel Zeit in den USA verbrachte, nach seinem Tod dann in seiner Stiftung. Es gibt eine Tochtergesellschaft in Atlanta, die unsere US-Immobilien verwaltet. Das und die Begeisterung unseres Stifters für Land und Leute waren gewissermaßen zu Beginn der Brückenkopf. 2013/2014 haben wir mit der inhaltlichen Arbeit in den USA begonnen: dem Austausch von Azubis und auch einzelnen Förderungen. Mit der neuen Strategie haben wir bewusst das Querschnittscluster eingerichtet, um den transatlantischen Gedanken, der dem Stifter sehr nahe lag, quer zu inhaltlichen Themen zu verankern. Nicht alles muss mit den USA zusammenhängen, aber wenn wir international denken, denken wir an die USA.Kunst: Auch die schnelle Wirksamkeit in der Praxis ist übrigens immer schon ein Kennzeichen gewesen. Vor diesem Hintergrund haben wir kritische Bilanz gezogen: Braucht man die 20. Stiftung, die die Incentivierung für naturwissenschaftlichen Unterricht betreibt? Oder bedeutet der Freiheitsgrad einer Stiftung nicht vielmehr, dass wir etwas anderes vertiefter angehen können? Wir haben die Möglichkeit, uns aus strategischen Gründen von Dingen zu trennen, die wir lange Zeit gemacht haben. Unser früherer Schwerpunkt der Einzelförderung ist gut für das Individuum, aber das Ergebnis sind eben Einzelmultiplikatoren. Ein anderer Ansatz ist es, Potential für Nachahmung zu erzeugen, sodass andere unsere guten Ideen – im besten Fall – übernehmen und ebenfalls in die Praxis umsetzen. Wir haben das Gewicht zwischen beiden Ansätzen verschoben.Welchen Austausch mit anderen Stiftungen hatten Sie für den Prozess?Kunst: Wir sind von Stiftung zu Stiftung gefahren und haben uns ausgetauscht. Es gibt ja viele, die sich in den vergangenen Jahren neu aufgestellt haben: etwa Bosch, Mercator, Bertelsmann, VW-Stiftung, ebenso Stiftungen in anderen europäischen Ländern. Wir sehen uns in einem guten Konzert mit anderen, die stärker auf die systemische Ebene gehen. Wir haben unsere Arbeitsschwerpunkte in den vergangenen drei, vier Jahren noch mal justiert – in Abstimmung mit diesen Stiftungen. Wir achten darauf, nicht in deren Kernbereich zu gehen, aber auch darauf, dass wir Mitstreiter haben. Wenn wir uns stark auf Transfer und Innovationsförderung konzentrieren, ist es schon wichtig, dass im Themenfeld auch noch andere tätig sind. „Wir können mutig sein, ausprobieren, aus Scheitern lernen.“Ulrich Müller, Vorstand Was kommt auf eine Stiftung Ihrer Größe im Zuge einer solchen Veränderung zu, inhaltlich und finanziell?Müller: Widerstand. Wenn man einen Veränderungsprozess ohne diesen Widerstand durchführt, ist es keiner. Der monetäre Aufwand ist hingegen überschaubar. Er besteht vor allem in den Beraterinnen und Beratern, die man reinholt. Transformation bedeutet einen sehr starken organisationsstrukturellen Aufwand über zwei Jahre hinweg. Sie fordert das Personal sehr stark, zum Beispiel Kolleginnen und Kollegen, die bislang in Bildungsprojekten gearbeitet haben und die entsprechende Ausbildung mitbringen – bei einem Wandel zu stärker wissenschaftsfördernden Strukturen brauchen Sie andere Profile. Daher bin ich stolz darauf, dass wir das ohne betriebsbedingte Kündigungen umsetzen können. Manche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben allerdings entschieden, dass es individuell nicht mehr passt.Das erzeugt vermutlich eine höhere Fluktuation.Müller: Vom Geschäftszweck kommend haben wir generell schon eine höhere Fluktuation als profitorientierte Unternehmen. Wir arbeiten an neuen Ideen, kreativen Lösungen. Daher sind wir darauf angewiesen, dass immer wieder neue Leute kommen, Ideen mitbringen. Wir hatten aber im Zuge der Transformation ganz klar eine höhere Fluktuation.Kunst: Damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Veränderungen nachvollziehen können, ist es wichtig, dass man den Blick von außen hat. Dass man gemeinsam in einen Spiegel schaut und nicht nur ein Vorstand über die Veränderungen spricht. Wichtig ist es, weiterzuerzählen, was die Stiftung ist, wofür sie steht. Wir setzen auf inhaltliche Neuaufstellung, orientieren uns am unternehmerischen Profil des Stifters: Die Stiftung ist bald 18 Jahre alt, macht sich also gewissermaßen ins Erwachsenenleben auf. Da sind die Sachen wichtig, die man mitgenommen hat, aber auch der Blick in die Zukunft. Gerade auch wenn man das Defizit an Risikobereitschaft in unserer Gesellschaft sieht. Wir wollen dazu beitragen, aus der Malaise der Stagnation in Bildung, Wissenschaftssystem und der unternehmerischen Welt herauszukommen. Dort gibt es großes Potential toller, junger Leute. Um das zu heben, braucht man manchmal Mut. Als Stiftung wollen wir diesen Mut, neu anzufangen, fördern.Das passt zum Motto des diesjährigen Stiftungstags, bleibt aber doch mitunter ein Wunsch im Sektor.Müller: Wenn Stiftungen nicht risikoaffin sind, wer sonst? Es ist eine ureigene Charaktereigenschaft der Joachim-Herz-Stiftung, dass wir gerne ins Risiko gehen. Wir können mutig sein, ausprobieren, aus Scheitern lernen – anstatt nur nette Projekte zu machen, sodass alle glücklich sind. Vom Stifter kommend sind wir auch in Kapitalanlage und Investments nicht spekulativ, aber eben sehr unternehmerisch unterwegs. Wir halten keine festverzinslichen Wertpapiere, keine Staatsanleihen, sondern Immobilien, Beteiligungen und Aktien. Risiko ist für uns kein negativ besetzter Begriff. Stiftungsarbeit hat vielmehr den Auftrag, auch mal ins Risiko zu gehen.Kunst: Aufs Inhaltliche gemünzt, bedeutet das, dass wir versuchen, die Juckepunkte im Bereich Bildung und Wissenschaft anzugehen. Jene Bereiche zu finden, wo man viel machen kann, aber es nur wenige machen. Wir versuchen, jungen Teams die Möglichkeit zu geben, ihre Vorhaben umzusetzen. Es bereitet mir besonderes Vergnügen, das zu überwinden, worunter ich im universitären Umfeld selbst gelitten habe (lacht).Sie bilden mit Carl-Zeiss-Stiftung, Deutscher Bundesstiftung Umwelt, Volkswagen-Stiftung, Körber-Stiftung, Stiftung für Technologie, Innovation und Forschung Thüringen sowie Stifterverband ein Netzwerk, das Innovation stärken will. Was können einzelne Stiftungen bewirken, wann braucht es Kooperation?Kunst: Wir sind froh, dass wir dieses Netzwerk haben. Es umfasst Stiftungen und Organisationen, die sich an der Grenzfläche zwischen Wissenschaftsförderung und Vorbereitung wirtschaftlicher Tätigkeit bewegen. Wir haben ganz unterschiedliche Themenschwerpunkte und Förderprogramme. Die anderen Organisationen werden bei ihren Programmen bleiben. Es geht nicht darum, gemeinsame Projekte anzugehen, sondern darum, wie man die Möglichkeiten gemeinnütziger Stiftungen auslotet: Was können wir, was könnten wir? Wir fragen uns zum Beispiel: Müssen wir so vorsichtig sein, wie es im Sektor häufig diskutiert wird, oder kann man im Austausch des Know-hows untereinander Sachen ausprobieren, die wir noch nicht machen – im Sinne eines kalkulierten Experiments? Auf der politischen Agenda steht überall, dass wir insgesamt unternehmerischer werden müssen. Wer dabei helfen kann, sind gemeinnützige Stiftungen, wenn man sie denn ließe.Welche Hürden haben Sie in Ihrem Bereich im Sinn?Kunst: Wenn wir Forschungsideen möglichst weit auf dem Weg bis zur Marktreife fördern, sind wir an die Gemeinnützigkeitsregeln gebunden. Wenn man Technologieförderung gemeinnützigkeitsrechtlich machen könnte, wäre das für die Innovationsgeschwindigkeit in Deutschland gut. Da sind die Grenzen zurzeit nicht flexibel und gleichzeitig klar genug. Entsprechend sind wir natürlich vorsichtig. Und dann haben wir noch die Möglichkeit, guten Ideen und Start-ups anstatt aus der Förderung möglicherweise auch aus der Kapitalanlage heraus weiterzuhelfen. Daher ist der offene Austausch im Netzwerk darüber wichtig, wer was in welchem Bereich leisten kann. Zudem bereiten wir eine Klientelbefragung vor: Wir wollen wissen, was unsere Förderpartner brauchen, was wir anbieten sollten, aber es noch nicht tun.Apropos Kapitalanlage statt Förderung: Sie sprechen damit Mission-Related Investments an. Welche Rolle spielen sie nach der Transformation?Müller: Mission-Related Investments oder MRI sind in den USA ein feststehender Begriff. Dort ist es möglich, Wirtschaftsunternehmen aus den Mitteln für die gemeinnützige Zweckerfüllung zu unterstützen, damit diese die Zwecke unterstützen. In Deutschland ist das nicht erlaubt. Aber in der Kapitalanlage ist eine solche Unterstützung möglich. Wir tun das heute im Bereich Private Equity bei Unternehmen, die nicht börsennotiert sind, über ein positives Ebitda verfügen und die einen gewissen Cashflow erzielen. Das können wir aber auch im Bereich Venture Capital machen. Für eine Stiftung unserer Größenordnung ist es kein Problem, zehn oder 20 Millionen von rund 3,5 Milliarden Stiftungskapital dafür einzusetzen. Wir suchen Wege, Forscherinnen und Forscher, die wir gefördert haben, oder Start-ups, die aus unseren Zentren entstehen, die aber nun mit Businessplänen antreten und Zugang zum Kapitalmarkt suchen, als Wagniskapitalgeber zu unterstützen. Wir könnten die gesamte Evolutionskette eines Start-ups abdecken. Die Stiftung muss natürlich ex ante davon überzeugt sein und dokumentieren, dass das Geschäftsmodell sich positiv entwickeln wird. Ein Investment in der Kapitalanlage muss Rendite erwirtschaften – im Unterschied zur Förderung. Natürlich kann immer etwas schiefgehen. Wir dürfen das aber nicht im Vornherein erwarten.Kunst: Man muss hier noch betonen: Ohne eine exzellente Kapitalaufstellung, wie wir sie dank unserer eigenen Vermögensverwaltung haben, hätten wir gar nicht darüber nachzudenken brauchen, eventuell ein größeres Rad zu drehen. Durch die positive Entwicklung über die Zeit hinweg ist es möglich gewesen, noch mal neu in die Zukunft zu denken. Das wird auch künftig so sein. Veränderung und Verbesserung erreichen wir nur, wenn wir uns etwas trauen.

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