Aus dem Blick, aber nicht verschwunden

Manipur. Der Name des Bundesstaats im Nordosten Indiens dürfte selbst für interessierte Nachrichtenleser eher schwer einzuordnen sein. Auf einer Fläche der Größe Hessens leben rund 2,7 Millionen Menschen. Seit Sommer 2023 kommt es dort immer wieder zu Ausschreitungen, der lange Zeit schwelende Konflikt zweier Volksgruppen ist in Gewalt gemündet.Kristina Balbach ist Redakteurin beim Missio-Magazin. Foto: Missio MünchenIm Gebiet der hinduistischen Meitei und christlichen Kuki ist auch Missio München aktiv. Das katholische Hilfswerk arbeitet in seinen Projektgebieten mit örtlichen Partnern, dafür wirbt es um Spenden. Das bedeutet auch, erst einmal vieles von dem erklären zu müssen, was medial nur wenig Beachtung findet. Trotz der Verfügbarkeit von Informationen kommt es nicht selten vor, dass Konflikte vergessen werden – oder es mangels Aufmerksamkeit gar nicht erst ins Gedächtnis schaffen.Bei der deutschen Berichterstattung über Indien etwa stehe in der Regel vor allem der wirtschaftliche Aufstieg des Subkontinents im Mittelpunkt, sagt Kristina Balbach, Redakteurin beim Missio-Magazin. „Als im April die Wahlen in Indien begannen, war die Gewalt in Manipur hierzulande kein Thema. Dabei fingen sie sogar im Norden an, also dort, wo im Mai 2023 die Gewalt ausgebrochen war.“Missio nutzte die Gelegenheit, an die mediale Behandlung der Wahl anzuknüpfen und ein Bewusstsein für den Konflikt zwischen Meitei und Kuki zu schaffen, der rund 60.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben und mehr als 200 Tote gefordert hat.Die ersten Informationen zur eskalierenden Lage seien wesentlich von den örtlichen Partnern gekommen, sagt Stephanie Schüller, die als Länderreferentin Kontakt zu den Projektpartnern in Nordindien hält. „Sie leiteten uns erste einzelne Videos weiter, später kamen dann Projektanträge, um auf die Lage zu reagieren. Die Partner waren vorsichtig, hatten Angst um Leib und Leben.“Behelfsunterkunft für Geflüchtete aus der indischen Provinz Manipur Foto: Missio MünchenSicherheitsbedenken prägten auch die Bearbeitung durch das Redaktionsteam. Die Lage in Manipur war derart angespannt, dass Balbach eine Reportage für das Missio-Magazin vom Schreibtisch aus machte. „Das ist ein Sonderfall. Unser ureigenes Tun ist es ja, hinzureisen, die Leute zu Wort kommen zu lassen. Durch das Netzwerk der Kirche ist uns vieles möglich. Wir haben gute Kontakte in Regionen, die andere Medien nicht haben.“Ob sie überhaupt in das Land hätte reisen können, ist ungewiss. Der Missio-Präsident etwa erhielt kein Visum. Bedenken über die Sicherheit der Menschen vor Ort habe die mediale Bearbeitung ebenfalls verändert: Ein Bericht über die Zustände könnte schließlich auch Repressalien bedeuten. „Ich bin in dem Fall die Reportage mit den Partnern noch mal durchgegangen, um dem Schutzgedanken gerecht zu werden“, sagt Balbach.Unter DruckStephanie Schüller ist Länderreferentin für Nordostindien bei Missio München. Foto: Missio München„Repressalien“ ist eine zunehmend relevante Vokabel, wenn es um den Subkontinent geht. Dessen politische Entwicklung war lange Zeit eine Randnotiz. Kritiker werfen Premierminister Narendra Modi vor, den mit mehr als 1,4 Milliarden Menschen inzwischen bevölkerungsreichsten Staat der Erde autoritär umzubauen. Das betrifft unmittelbar die Sphäre des christlichen Hilfswerks. „Was bedeutet das für religiöse Minderheiten, was für die Pressefreiheit?“, fragt sich Balbach über die Lage. „Wie sieht es mit Gewaltenteilung aus in dem Staat, der sich demokratisch nennt?“ Dass man besonders auf die Lage der Christen schaue, sei nicht nur dem Charakter von Missio geschuldet, sagt sie. „Im Vordergrund steht das Humanitäre. Die Rolle der Christen ist im Vergleich zum Bevölkerungsanteil bedeutsam. Ein Fünftel der Schulen in Indien wird von Christen geführt.“ Der Umgang mit dieser Minderheit hat Konsequenzen für das ganze Land.Der Konflikt im 2011 vom Norden abgespaltenen Südsudan ist einem deutschen Publikum ebenfalls nicht unbedingt im Detail geläufig. Und so nutzt Missio Gelegenheiten wie den Besuch von Außenministerin Annalena Baerbock im Januar, um im für kurze Zeit ansteigenden breiteren Interesse die Hintergründe zu beleuchten. „Solche Anlässe öffnen ein Fenster, das Thema zu transportieren“, sagt Philipp Stangl, Länderreferent für Ostafrika.Das ist umso wichtiger, als die Arbeit von Missio häufig abseits des Scheinwerferlichts stattfindet: Man sehe seinen Platz hier in der Nische, wo andere Akteure nicht zu finden sind. „In den Hauptstädten arbeiten viele große Hilfsorganisationen – aber wer ist am letzten Zipfel des Landes?“, sagt Stangl und verweist auf das Netzwerk der katholischen Kirche, auf das Missio aufbaut, wenn es etwa psychosoziale Projekte gegen traumatische Belastungen betreibt. „Wer bietet das an in einem Bereich, der eh schon abgestempelt ist als Failed State? Wir. Wir kommen da hin. Die Not rechtfertigt das.“ Räume für autistische Kinder in Flüchtlingslagern, Angebote für behinderte Menschen seien ansonsten in Flüchtlingslagern selten.„Ich vermisse in der öffentlichen Debatte das Verständnis für internationale Zusammenhänge.“ Christian Selbherr, Redakteur, Missio-MagazinDrei Monate nach dem Baerbock-Besuch jährten sich die Kämpfe in Khartum, der Hauptstadt des nördlichen Nachbarlands Sudan. „Es gab überraschend viele Berichte, viel mehr als bei Ausbruch der Gewalt“, sagt Christian Selbherr, Redakteur beim Missio-Magazin. „Das ist ein Beispiel dafür, dass es insgesamt vielleicht gelungen ist, diese Krise mehr in den Blick zu rücken.“ Nicht gelungen sei es hingegen, den Blick zu weiten. Rund zehn Millionen Menschen sind im Sudan auf der Flucht, es ist eine der größten Flüchtlingskrisen der Welt. „Die Krise betrifft aber nicht nur den Südsudan, auch die Nachbarländer sind betroffen. Es gibt rund 100.000 Flüchtlinge allein in der Region Renk im Südsudan. Sie kommen selten in der Berichterstattung vor. Ich vermisse in der öffentlichen Debatte das Verständnis für internationale Zusammenhänge.“Christian Selbherr ist Redakteur beim Missio-Magazin München. Foto: Mission MünchenDurch ihre Arbeitsweise kann Hilfsorganisationen eine Rolle zukommen, die klassische Medienkanäle nicht immer erfüllen, gerade in Zeiten, in denen der Wettlauf um Klickzahlen und Seitenaufrufe den Alltag bestimmt. „Wir richten uns in der Projektarbeit nicht nach Aufmerksamkeit. Wir nutzen zwar die Gelegenheit, wenn sie sich bietet, auf ein Land hinzuweisen, aber das heißt nicht, dass wir davor oder danach nicht da sind.“ Der Hauptaspekt sei vor allem die Subsidiarität. „Wir haben keine sechsjährige Planung für den Südsudan. Vielmehr kommen die Partner mit Bedürfnissen und Bedarfen zu uns. Wir schauen, wo wir helfen können, auch wenn wir Prioritäten wie Frauenförderung oder die Bewahrung der Schöpfung und der Lebensgrundlagen haben“, sagt Stangl. Berichterstattung hat dabei im besten Fall auch einen Nutzen für Missio selbst – und damit für die Schützlinge. „Aufmerksamkeit kann sich auf die Arbeit auswirken. Wenn Spender in spe schon einmal von einem Konflikt gehört haben, lässt das eine höhere Resonanz zu“, sagt Stangl.Dass Medien Krisen ganz unterschiedlich behandeln, ist kein bloßer Eindruck. So zeigt etwa eine Untersuchung des Historikers Ladislaus Ludescher das Ungleichgewicht von Berichterstattung im Verhältnis zur Schwere von Krisen. 2017 erhielt etwa eine Cholera-Epidemie im Jemen mit einer Million erkrankter Menschen, die zu den größten humanitären Krisen der Zeit zählt, knapp 16 der 5.475 Sendeminuten der Tagesschau. Das Phänomen ist international. Weltweit neigt Berichterstattung laut Ludescher zu derartigem Ungleichgewicht.Eine Folge davon: „Man kann viele Krisengegenden als vergessene Krisen einstufen“, sagt Christian Gemperli, Team Leader Humanitarian Response bei Helvetas Schweiz. „Die Zahlen afghanischer Flüchtlinge in Pakistan gehören zum Beispiel zu den höchsten überhaupt. Doch das spielt sich ziemlich unbemerkt von der Weltöffentlichkeit ab.“ Zwei Drittel der Länder, in denen Helvetas Schweiz aktiv ist, seien als fragil eingestuft. „Es sind ganz unterschiedliche Arten von Krisen, zum Teil langwierig, zum Teil akut, zum Teil wiederkehrend.“ Wie stark diese Krisen international wahrgenommen und diskutiert würden, hänge oft an persönlichen oder politischen Interessen. „Nehmen Sie eine Naturkatastrophe im Ferienkontext: Solch ein Ereignis spiegelt sich im Medieninteresse wider und oft auch in den Finanzströmen – diese korrelieren aber eben nicht immer mit den tatsächlichen Bedürfnissen. Sowohl was staatliche Gelder als auch private Spenden oder Aufwendungen von Stiftungen angeht.“„Vor, während und nach der Krise“Philipp Stangl ist Länderreferent für Ostafrika bei Missio München. Foto: Missio MünchenDie Daten zur medialen Aufmerksamkeit zeigen Missio-Redakteur Selbherr, dass Entwicklungshilfe nicht nur bei der Kernarbeit einen langen Atem braucht. „Missio muss einfach vor der Krise, während der Krise und danach bei den Leuten sein.“ Durch die Information entstehe auch ein Resonanzraum, der die Ansprache der Öffentlichkeit erleichtere. Ein sich selbst verstärkender Effekt. Allerdings fällt der Erfolg, gemessen an der Unterstützung durch Spenden, unterschiedlich aus. „Bangladesch ist weniger beachtet worden, der Libanon und Südsudan mehr.“ Auch was Indien angeht, ist ein Fazit schwierig. Äußerungen zur Krise hat Premier Modi bereits gerügt. Es handle sich um ein innerindisches Problem, das externe Akteure nichts angehe, so der 73-Jährige. Deren Motivation hält sich zum Teil in engen Grenzen. „Wirtschaftlich spielt der Nordosten Indiens keine große Rolle, es gibt keine produzierende Industrie oder Städte, die für Deutschland wirtschaftlich interessant wären.“Auch aus Sicht von Christian Gemperli kann die örtliche Politik die Lage beeinflussen. „Mitunter wird versucht, Krisen möglichst unter dem Deckel zu halten oder die Arbeit von NGOs durch Zugangslimitierung zu beeinträchtigen.“ Zum Beispiel, weil die Regierung davon ausgeht, eine Krise könnte ihrem Ruf schaden. Dann müsse man im Gespräch bleiben und die eigene unabhängige Arbeit erklären. Ein Rückzug sei selten nötig.Zum Teil gebe es aber auch ganz banale Gründe für mediale Abstinenz. „Das Problem ist, dass in längerfristigen Krisen oftmals gar nicht so viel Aktuelles zu berichten ist, das Leser interessiert, weil sie mit dem Kontext nicht vertraut sind“, so Gemperli – „im Gegensatz zu anderen, stark thematisierten Konflikten, wo immer eine Dynamik da ist, die das Thema in den Medien hält.“ Die Rolle von NGOs sei es aufzuzeigen, dass diese längerfristigen Konflikte nicht aufgehört haben.Trotz eines Friedensabkommens im Jahr 2018 ist der Bürgerkrieg im Südsudan nicht zu Ende. Foto: Jörg BöthlingUmso mehr angesichts des allgemeinen Trends: „Mittlerweile steigt die Finanzierung für Krisen immer noch leicht an – doch die Kurve für Bedürfnisse steigt viel stärker“, sagt Gemperli. Die Schere zwischen Bedürfnissen und den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln öffne sich deutlich. „Daher wird die Entscheidung immer wichtiger, wo die knappen Mittel eingesetzt werden.“ Und auch hier griffen die Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie. „So wurde zum Beispiel für die Ukrainekrise viel Geld eingesetzt – zum Teil zuungunsten anderer Krisen. Das hat in der Schweiz eine Debatte ausgelöst. Schließlich stammt alles aus dem Gesamtbudget der internationalen Zusammenarbeit.“Hinter den steigenden Bedürfnissen stehe eine Zunahme bewaffneter Konflikte und auch Vertriebener. Die Zahl der Auseinandersetzungen sei sehr stark gestiegen in den vergangenen zehn Jahren, und sie wurden langwieriger. „Die Menschen kehren oft nicht zurück“, sagt Gemperli. Die Auswirkungen der Veränderung des Klimas seien ebenfalls zu erkennen. „Wir haben global immer mehr Extremereignisse mit entsprechend höheren Schäden.“„Diese Flüchtlingskrise in Bangladesch dauert schon lange an, und es gibt immer wieder starke Einschnitte auch bei Lebensmittelrationen – obwohl die Kosten für Lebensmittel stark steigen.“ Christian Gemperli, Leiter Humanitäre Hilfe, HelvetasWas es konkret bedeutet, wenn die Mittel nicht ausreichen, zeigt das Beispiel der Rohingya. „Diese Flüchtlingskrise in Bangladesch dauert schon lange an, und es gibt immer wieder starke Einschnitte auch bei Lebensmittelrationen – obwohl die Kosten für Lebensmittel stark steigen“, sagt Gemperli. Aktuell stünden pro Kopf noch acht US-Dollar im Monat an Nahrungsmittelhilfe für das größte Flüchtlingscamp der Welt zur Verfügung. „Angefangen hat es mit 13. Das Welternährungsprogramm muss eben immer mehr Bedürfnisse abdecken.“ Auch in Syrien, wo weiterhin Millionen binnenvertrieben seien, gingen die Mittel stetig zurück.Aus der Vielzahl an Krisen ergibt sich auch aus Gemperlis Sicht ein Abnutzungseffekt. „Daher versuchen wir, Öffentlichkeitsarbeit nicht nur zu hoch mediatisierten Krisen zu betreiben, sondern sicherzustellen, dass andere nicht komplett vergessen werden.“ Es gehe aber nicht darum, das Geld umzuverteilen, betont Gemperli. „Wir machen vielmehr deutlich, dass Gelder zusätzlich aufgebracht werden müssen.“Christian Gemperli ist Leiter Humanitäre Hilfe bei Helvetas. Foto: HelvetasFür Missio, wie für klassische Medien, ist die Informationsarbeit ebenfalls ein Balanceakt. „Ich glaube, die Menschen wissen auch so, dass es diese Krisen gibt, auch wenn sie wenig präsent sind. Das ist nichts, was man in die Köpfe der Leute bringen muss. Zu viel Krisenberichterstattung kann auch abstumpfen – was eben nicht förderlich für das Spendenaufkommen und damit die Menschen vor Ort wäre.“Und dann gibt es eben noch jene Länder, wo die Kirche und Missio bewusst unter dem Radar bleiben wollen. Auch in Indien? „Unsere Partner sind in ihrem Tun zum Teil eingeschränkt, Geldtransfer ist oft nicht so einfach, man muss Verwendungszwecke bei Überweisungen abändern, um sie durchzubringen“, sagt Schüller. Zum Teil sei Taktieren gefragt, um die Arbeit vor Ort zu unterstützen. In anderen Ländern stelle sich die Lage genau andersherum dar, etwa in Syrien. Unter dem Assad-Regime in Syrien etwa erleichtere es den Ablauf, wenn es sich um Kirchenprojekte handle.Dennoch: Beim Thema Indien seien hierzulande erste Impulse zu erkennen, sagt Missio-Redakteurin Balbach. „Einige Parlamentarier haben sich dem Thema verschrieben, man beginnt, sich mehr mit der Frage zu beschäftigen, was Christen für Bildung in einem Land tun können.“Ob eine Krise vergessen wird, lasse sich nicht einfach sagen, sagt Gemperli. „Es gibt Lagen, da weiß man von Anfang an, dass es sich um eine Spotlight-Krise handelt, die gut finanziert wird. Zum Beispiel der Ukrainekrieg oder das Erdbeben in der Türkei.“ Bei Naturkatastrophen seien die Aussichten generell günstiger, da hier die Ambiguität bewaffneter Konflikte fehle. „In manchen Krisen weiß man auch von Beginn an, dass wenig Geld zur Verfügung stehen wird, etwa wie Jemen oder dem Sudan. Andere werden über die Zeit vergessen, wie die Krise im Libanon oder in Bangladesch. Sie rutschen immer weiter in die Vergessenheit.“Dossier zu Manipur bei Missio München: https://www.missio.com/aktuelles/nachrichten/multimedia/manipur-nordostindien-webdossier

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