Elke Schilling brachten gleich drei erschütternde Erfahrungen dazu, mit 69 Jahren erstmals ein Start-up zu gründen. Die Zielgruppe ihres Unternehmens: „Menschen ab 60 mit Einsamkeitsgefühlen.“

Mit 69 Jahren erstmals Gründerin: Elke Schilling. Foto: Gordon Welters
Ein erster Moment ergab sich während Schillings ehrenamtlicher Tätigkeit bei der Telefonseelsorge, für die sie zwölf Jahre tätig war. Dort rief sie ein älterer Mann an, dessen soziale Kontakte weniger geworden waren und der vereinsamt war. Er fragte: „Können Sie mir sagen, warum ich noch leben soll?“ Für Schilling ein Schock. Und ein Anlass, die Hintergründe zu recherchieren: „Ich bin Mathematikerin und interessiere mich für Statistik. Ich habe dann herausgefunden, dass Männer in dieser Altersgruppe am häufigsten erfolgreich Suizid begehen.“ Sie selbst war zum Zeitpunkt dieses Anrufs 65. Im Team der Telefonseelsorge habe sie daraufhin versucht, ältere Menschen und Einsamkeit zu thematisieren – eine Altersgruppe, die damals, wie Schilling schätzt, 20 bis 30 Prozent der Anrufer stellte. „Das ist mir aber nicht gelungen. Es hat keinen interessiert. Einsamkeit war kein Thema.“
Eine zweite prägende Phase war für Schilling ihre Tätigkeit in der Seniorenvertretung im Bezirk Berlin Mitte, Ortsteil Wedding, in der sie auf politischer Ebene für die Interessen älterer Menschen eintrat. Ihr sei dort klar geworden, wie wenig ältere Menschen die Angebote der Wohlfahrtsverbände und öffentlichen Einrichtungen kennen. „Vielen ist auch nicht bewusst, dass Kommunen verpflichtet sind, Angebote für Begegnung und Beratung älterer Menschen zur Verfügung zu stellen.“

Auch für den Plausch zwischendurch: „Einfach mal reden“ ist der Slogan des Silbertelefons. Foto: Silbernetz
Der dritte Einschnitt: Zwei Jahre, nachdem Schilling in die Seniorenvertretung gewählt wurde, verstarb ihr Nachbar. Dieser sei freundlich und hilfsbereit gewesen, habe aber zurückgezogen gelebt und keines ihrer Hilfsangebote je angenommen. Dass er verstarb, habe zunächst niemand bemerkt. „Ich hatte Fliegen in der Wohnung und war Zeugin, wie er im blauen Leichensack rausgetragen wurde“, sagt Schilling. „Da habe ich mir gesagt, dass so etwas nicht sein darf.“
2013 wurde in Großbritannien mit der sogenannten Silver Line ein Telefonangebot für einsame ältere Menschen geschaffen, das einen traurigen Erfolg einfuhr: Landesweit gingen bei der Hotline im ersten Jahr 300.000 Anrufe ein. „Da dachte ich: ‚Das können wir auch‘“, sagt Schilling. „Damals gab es in Deutschland null Bewusstsein, kaum Aufmerksamkeit, kaum Studien.“ An das britische Vorbild angelehnt, gründete Schilling das soziale Start-up Silbernetz, dass eine kostenlose Telefon-Hotline anbietet. Die Nummer 0800 4 70 80 90 übernimmt Schilling von dem britischen Pendant. Sie enthält das Wortspiel mit der Zahl Vier, auf Englisch „four“, die gesprochen wie das englische Wort „for“, also „für“ klingt. Zudem steckt in der Nummer die anvisierte Altersgruppe der 70-, 80- und über 90-Jährigen.
Einsamkeit – was ist das?
Einsamkeit ist das subjektive Empfinden, dass im eigenen Leben entweder nicht genügend oder aber nicht die gewünschten sozialen Beziehungen bestehen. Dass ältere Menschen tendenziell eher einsam sind, findet Schilling plausibel. „Im Alter schwinden die körperlichen und psychischen Kräfte. Da können Ängste wachsen, Phantasien und der Glaube an die eigene Nichtswürdigkeit.“ Rein praktisch sei es im fortgeschrittenen Alter schwieriger, soziale Beziehungen zu pflegen, und noch schwieriger, neue Kontakte zu knüpfen: „Auf der Straße begegne ich Fremden. Kontakt zu fremden Menschen aufzunehmen traue ich mich nicht.“

Über 20 Festangestellte und rund 100 freiwillige Helfer sind für die Telefonhotline im Einsatz. Foto: Silbernetz
Schilling will mit dem Silbertelefon ein „niedrigschwelliges Angebot gegen die Vereinsamung älterer Menschen“ bieten. Dabei sollen ausdrücklich nicht nur akut einsame Menschen, sondern jedermann anrufen können: Der Hotline-Slogan „Einfach mal reden“ lädt zum unverbindlichen Plausch ein. Dass die Telefonate anonym stattfinden und sich die Mitarbeiter und ehrenamtlichen Helfer Aliasnamen geben, soll weitere Hemmnisse abbauen. Es gibt ausschließlich telefonischen Kontakt, persönliche Treffen sind nicht vorgesehen. Das bietet laut Schilling einige Vorteile: „Es ist leichter, am Telefon zu sagen, was ich brauche. Und ich bestimme als Anrufende die Grenzen – notfalls kann ich den Hörer auflegen.“
Ein Anruf am Tag
In einem typischen Gespräch gehe es um Alltagsprobleme, Probleme mit Kindern und Enkeln, um Gesundheitsprobleme. „Alte Menschen rufen auch an, weil sie ihren Kindern nicht auf den Geist gehen wollen.“ Während der durch Corona bedingten Kontaktbeschränkungen hätten sich zudem viele Anrufer gemeldet, die vorher nicht einsam waren. Viele Menschen rufen einmal täglich an, manche auch häufiger. „Einige kennen auch die Aliasnamen und möchten bestimmte Mitarbeiter sprechen.“
Aktuell wird Schillings Start-up zu einer gGmbH umgewandelt. Es beschäftigt bereits über 20 Festangestellte. Hinzu kommen rund 100 freiwillige Helfer, monatlich bildet Silbernetz zehn bis zwölf weitere telefonische Unterstützer aus. Neben dem Silbertelefon für den spontanen Plausch zwischendurch gibt es inzwischen auch deutschlandweit das Angebot, einen regelmäßigen Telefontermin mit einem der Ehrenamtlichen zu vereinbaren. Schilling schätzt, dass etwa einer von hundert Anrufern Letzteres wünscht. In Berlin bietet Silbernetz zudem an, Anrufer über Angebote in der Nachbarschaft zu informieren. Also: Wo gibt es seniorengerechte Kurse? Was macht die Seniorenvertretung meiner Stadt? Oder: Wo kann ich mich in der Kinderbetreuung einbringen? Elke Schilling hat zudem eine Erklärung dafür, dass Einsamkeit im Alter bislang in der breiten Öffentlichkeit noch nicht adressiert wurde, obwohl doch ein hoher Bedarf zu bestehen scheint: Einsamkeit, Alter und auch Suizid seien Tabus – Themen, über die man nicht spricht. „In der Informationsgesellschaft gibt es ein Vor-sich-Hertragen seiner Kontakte, seines sozialen Netzwerks. Einsamkeit hingegen gilt als ein Defizit“, sagt Schilling.
Es besteht Gesprächsbedarf

Karin Haist bei einem Symposium zum Thema Einsamkeit. Foto: Claudia Höhne/Körber-Stiftung
Dabei wäre es wichtig, über Einsamkeit zu sprechen, denn Einsamkeit ist kein Randphänomen. Eine Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung und der Körber-Stiftung zeigt, dass Menschen im Laufe ihres Lebens immer wieder Phasen von Einsamkeit erleben, der Anteil an einsamen Menschen ab dem Alter von 75 Jahren aber deutlich ansteigt. Altern macht also einsam? Ganz so einfach ist es nicht: „Alter macht nicht per se einsam, aber Armut, geringe Bildung, Krankheit oder allein zu leben, kann zu Einsamkeit führen“, sagt Karin Haist, die bei der Körber-Stiftung im Bereich Alter und Demographie tätig ist.
Die Studie von der Körber-Stiftung und dem Berlin-Institut ist eine Meta-Studie, die verschiedene andere Studien untersucht. Sie zeigt, dass der Anteil an einsamen Menschen im Alter zwischen 60 und 85 – je nach Befragung und zugrunde gelegter Einsamkeitsdefinition – bei sechs bis elf Prozent liegt. Damit ist nur eine Minderheit akut von Einsamkeit betroffen.
Zwei verschiedene Probleme deuten sich hier aber an: Zum einen ist das Phänomen Einsamkeit nicht hinreichend erforscht, Forschungslücken gibt es insbesondere in Bezug auf hochaltrige Menschen über 85. Außerdem ist es nicht trivial, Einsamkeit zu definieren und zu erfassen. Nicht jeder ist bereit, sich selbst und anderen gegenüber einzugestehen, dass er einsam ist. Ein zweiter Aspekt bezieht sich auf den demographischen Wandel: Mit der Babyboomer-Generation kommt eine große Anzahl an Menschen in ein Alter, in dem Einsamkeit ein Thema sein kann. „Die individuellen Aussichten für Babyboomer, einsam zu werden, sind zwar gering, denn sie sind oft ökonomisch gut aufgestellt und gebildet. Aber ein Drittel von ihnen geht alleinstehend in den Ruhestand – und allein die Anzahl der Menschen in diesem Alter wird Einsamkeit in der Gesellschaft verstärken“, sagt Haist.

Begegnung – etwa im Rahmen von Ausstellungen – schaffen Abhilfe gegen Einsamkeit. Foto: Bente Stachowske
Für sie ist Einsamkeit damit „ein absolutes Zukunftsthema“. Zumal Deutschland in Sachen Prävention nicht ganz so gut aufgestellt ist wie einige Nachbarländer: Großbritannien etwa verfügt seit 2018 über ein „Ministry of Loneliness“, also eine Staatssekretärin, die sich eigens mit dem Thema Einsamkeit befasst. Die Kommune Aarhus in Dänemark baut Stadtteiltreffs und Mehrgenerationenwohnhäuser und setzt auf eine gezielte Ansprache älterer Menschen, auch digital, um Einsamkeit vorzubeugen. Haist dazu: „Die Sozialbehörde in Aarhus hat uns gesagt: ‚Das können wir uns nicht leisten, dass in einer alternden Gesellschaft die Leute nicht mehr aktiv sind.‘“ Deshalb werde jeder Senior ab 75 von einem Team aus Sozialarbeitern und Ärzten besucht. „Dann gibt es einen Check-up: Was kann er alleine, was will er? Und es wird eine Art Vertrag darüber geschlossen.“ Die Stadt setzt außerdem auf smarte technische Lösungen, die die Selbstständigkeit und Mobilität der älteren Bürger fördern.
Die Körber-Stiftung versteht sich dabei als Ideengeber, zeigt erfolgreiche Beispiele auf und regt deutsche Kommunen dazu an, bereits bewährte Konzepte zu übernehmen. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass skandinavische oder angelsächsische Kommunen Einsamkeit sehr ernst nehmen. Spätestens durch Corona ist das Thema auch in Deutschland ganz vorn auf der Agenda.“
Einsamkeit macht krank
Dafür, Einsamkeit ernst zu nehmen und Prävention zu leisten, gibt es gute Gründe. Einsamkeit ist nicht bloß ein unschönes Gefühl, sondern Einsamkeit macht krank, wie die Studie der Körber-Stiftung zeigt. Sie bezieht sich dabei auf medizinische Studien, die belegen, dass Einsamkeit psychische Erkrankungen und Demenz bedingen kann. In einer Langzeitstudie mit 6.700 Teilnehmenden über 50 Jahre wiesen einsame Menschen im Vergleich zu nicht einsamen Menschen eine um 40 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit auf, dement zu werden. Einsamkeit führt laut Studie außerdem zu erhöhtem Blutdruck und steigert damit das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Eine weitere Studie stellt ein erhöhtes Risiko für Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen bei einsamen Menschen fest. Und: Es besteht sogar Ansteckungsgefahr. Angehörige oder Pfleger, die sich viel im Umfeld einsamer Menschen aufhalten, laufen ebenfalls Gefahr, sich einsam zu fühlen. Mit diesen Befunden ist Einsamkeit auch ein deutlicher Kostenpunkt für die Gesellschaft: Durch Einsamkeit entstehen erhöhte Aufwendungen für Pflege und ärztliche Behandlung.
Leuchttürme im Alltag

Das Haus im Park fördert aktives Altern. Foto: Körber-Stiftung
Erfreulicherweise gibt es eine Vielzahl an Stiftungsprojekten, die dem Problem der Einsamkeit entgegenarbeiten. Die Körber-Stiftung unterhält ein eigenes Projekt, das sich dem Thema des „guten Alterns“ verschrieben hat. Das „Haus im Park“ im Hamburger Stadtteil Bergedorf geht auf den Unternehmer und Stifter Kurt A. Körber zurück. Mit dem Haus im Park schafft Körber in den 80er Jahren ein Projekt, das Modellcharakter hat. „Ziel war, ein Begegnungszentrum für aktives Altern zu schaffen“, sagt Morten Jendryschik, der das ehrenamtliche Engagement beim Haus im Park koordiniert. „Aus dieser Begegnung sind Aktivitäten entstanden, die sich in den Angeboten, aber auch in den Menschen, die das Haus geprägt haben, widerspiegeln.“ Für die Zielgruppe der über 50-Jährigen gibt es ein breites Angebot von Theaterkursen über sportliche Aktivitäten hin zu einer Kreativwerkstatt.

Sich gemeinsam an Neues herantasten – wie hier beim Computer-Treff. Foto: Bente Stachowske
Das Haus im Park schafft damit einen Ort, bei dem Aktivität im Mittelpunkt steht, ohne dass Besucher etwas konsumieren müssen. Viele Ideen, wie den Apple-Computerkurs, haben die Senioren selbst umgesetzt. Jendryschiks Job ist es, weitere Senioren zu motivieren, Ideen zu entwickeln. Rund hundert engagierte Senioren waren im letzten Jahr im Haus im Park aktiv. „Dadurch, dass die Menschen hier aktiv mitgestalten, entstehen soziale Netzwerke, und das trägt dazu bei, dass sie nicht vereinsamen“, sagt Jendryschik. Viele der Besucher kommen regelmäßig wieder. „Unser Angebot strukturiert den Alltag und die Woche. Das sind Leuchttürme im Alltag.“ Ob unter den Senioren, die das Haus besuchen, eher gut vernetzte oder einsame ältere Menschen sind? „Ich glaube, sowohl als auch“, sagt Jendryschik. „Wenn man anonym fragen würde, würde man wenige Selbstbeschreibungen hören, die sagen: ‚Ich bin einsam.‘ Sondern die würden sagen: ‚Hier gibt es Unterhaltung oder Abwechslung.‘“
Die Maßnahmen des Hauses sind eher präventiv wirksam. Menschen, die akut einsam sind, seien schwieriger zu erreichen, erklärt Jendryschik. „Wenn Einsamkeit klinisch definiert zutrifft, geht man in der Regel nicht von sich aus raus und trifft Leute. Das ist eher eine Endstation. Die Königsdisziplin ist es, genau diese Menschen zu erreichen.“

Bei dem Programm Besuchsdienst treffen Ehrenamtliche einmal die Woche „ihre“ Senioren. Foto: Bente Stachowske
Das Haus im Park versucht, mit dem Programm „Besuchsdienst“ auf diese Menschen zuzugehen. Engagierte aus dem Haus im Park besuchen ältere Menschen, die nicht mehr mobil sind und ihr Zuhause oft nicht mehr verlassen können. „Wir haben Engagierte, die sagen: ‚Denen kann ich ein bisschen von der Aktivität und dem Leben hier abgeben‘“, sagt Jendryschik. Da die Besuche eine verantwortungsvolle Aufgabe sind, werden die ehrenamtlichen Besucher ausgebildet und ein behutsames Kennenlernen arrangiert. Später bildet sich dann ein fester Turnus für die Treffen aus, meist einmal wöchentlich. Die Ehrenamtlichen sind alle Generation 50 plus. „Es gibt auch Engagierte, die sind selbst über 80. Eine Dame macht das schon über 15 Jahre“, sagt Jendryschik. „Andere Besuchsdienste verfahren da anders und engagieren explizit Studenten oder Jüngere. Unser Fokus ist da ein anderer. Altern heißt für uns nicht, dass man passiv wird. Sondern aktiv bleibt.“
Kernthema für Bürgerstiftungen

Engagiert sich bereits seit drei Jahren als Pate: Reinhard Prunczak. Foto: Bürgerstiftung Hannover
Menschen zu vernetzen, Kontakte zu vermitteln zwischen Jung und Alt, zwischen Alteingesessenen und Neuzugezogenen ist ein typisches Anliegen auch von Bürgerstiftungen. Die Bürgerstiftung Hannover hat hierfür das Programm Zwischenmenschlich ins Leben gerufen – initiiert 2017 durch eine ehrenamtliche Mitstreiterin, die das Programm bis heute koordiniert. Ehrenamtliche Paten besuchen einmal pro Woche Senioren in Altenheimen und verbringen mit ihnen gemeinsam Zeit.
Reinhard Prunczak bringt sich seit drei Jahren als Pate ein. Die Seniorin, die er aktuell betreut, ist bereits die fünfte, die der 74-jährige Rentner regelmäßig besucht. „Ich war am Postbankschalter. Da kamen die Leute immer zu mir, weil ich ein freundlicher Mensch bin“, sagt Prunczak. Ob die Bewohner von Altenheimen einsam sind, könne er nur von außen betrachten: „Mein Empfinden ist, dass für die Heimbewohner der Tag endlos ist. Gerade durch Corona habe ich gedacht: ‚Was ist das für ein Tag, der so trist anfängt und so trist zu Ende geht.‘“ Die Treffen mit den Paten seien da eine willkommene Abwechslung. „Die Leute genießen die Stunde oder zwei – weil sie das aus dem Alltag rausbringt. Alle, die ich besucht habe, waren einfach glücklich.“