Europa auf dem Rückzug?

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Seitdem die US-Regierung kurz nach Amtsantritt im Januar angekündigt hat, die meisten Gelder einzufrieren, hat sich die Lage der Entwicklungszusammenarbeit international bekanntlich deutlich verschärft. Im März war klar, dass mehr als 80 Prozent der Verträge von USAID beendet würden. Am 1. Juli stellte die US-Behörde ihre Arbeit ein. Die wie im Zeitraffer umgesetzte Abkehr von der bisherigen Politik fügt sich in eine breitere Entwicklung ein.

Nicht nur jenseits des Atlantiks regiert in der Entwicklungszusammenarbeit der Rotstift. Deutschland etwa senkt, wie in DIE STIFTUNG 4/2025 berichtet, im Bundeshaushalt 2025 die Mittel für humanitäre Hilfe im Etat des Auswärtigen Amtes um 53 Prozent auf eine Milliarde Euro. Das Budget des Bundesministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (BMZ) geht ebenfalls zurück – um acht Prozent auf 10,28 Milliarden Euro, was rund eine Milliarde Euro Verlust für das BMZ bedeutet, so der Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe deutscher Nichtregierungsorganisationen (Venro). „Der Anteil des BMZ am Gesamthaushalt sinkt auf ein Zehnjahrestief.“ Die standardisierte internationale Kennzahl, die Official Development Assistance (ODA), umfasst noch weitere Mittel. Sie vermittelt einen Eindruck von den Größenverhältnissen. In absoluten Zahlen lag Deutschland 2024 international auf Platz zwei, relativ zur Wirtschaftskraft mit 0,67 Prozent auf Platz fünf hinter Norwegen (1,02), Luxemburg (1), Schweden (0,79) und Dänemark (0,71).

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Trend der reichen Länder

„Der Trend zieht sich durch alle reichen Länder“, sagt Patrik Berlinger, Verantwortlicher für politische Kommunikation bei der schweizerischen Organisation Helvetas, und verweist auf Kürzungen auch in Schweden, den Niederlanden und jetzt auch der Schweiz. „Klimaschutz und ökologische Landwirtschaft, gute Regierungsführung und soziale Sicherung, humanitäre Hilfe und nachhaltige Entwicklung – alles kommt unter Druck.“

Das Schweizer Budget für Entwicklungszusammenarbeit beträgt 2025 rund 110 Millionen Franken weniger als im Vorjahr, bis 2028 sollen mindestens weitere 300 Millionen gekürzt werden. „Die Schweiz lag in der Vergangenheit bei rund 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Entwicklungszusammenarbeit und rutscht bis 2028 auf unter 0,35 Prozent (ohne Anrechnung von Asylkosten im Inland). Das UN-Ziel von 0,7 Prozent erreicht sie seit Jahren nicht.“ Die offizielle Schweizer Entwicklungszusammenarbeit ziehe sich unter dem finanziellen Druck aus ausgewählten Ländern zurück, darunter Bangladesch, Albanien und Sambia. Auch bei wichtigen UN-Organisationen – zum Beispiel bei UNAids, Unicef und dem UN-Entwicklungsprogramm – werde teils stark gekürzt.

„Viele Auswirkungen werden wir erst über die nächsten Jahre erleben.“ Patrik Berlinger, Helvetas

Die Auflösung von USAID spielt in einer eigenen Liga. Mit rund 62 Milliarden US-Dollar jährlich leisteten die USA bislang über ein Viertel der weltweiten Entwicklungshilfe. Die Folgen für NGOs und UN-Organisationen, für den weltweiten Klimaschutz, für Impfprogramme und die Bekämpfung von Aids, Malaria und Tuberkulose, und für humanitäre Hilfe bei Kriegen und Klimakatastrophen sind entsprechend einschneidend. „Auch Schweizer NGOs sind vom USAID-Stopp betroffen – insgesamt fallen rund 100 Millionen allein im aktuellen Jahr weg“, so Berlinger. „Das lässt sich nicht schnell kompensieren.“ Einzelne Organisationen hätten schon Programme gekürzt oder eingestellt. Helvetas selbst sei weniger stark betroffen wie andere Schweizer Organisationen. „Bei uns machten die Gelder von USAID weniger als ein Prozent vom Umsatz aus.“

Patrik Berlinger verantwortet die politische Kommunikation bei der schweizerischen Organisation Helvetas. Foto: Helvetas

Im Juli veröffentlichte das medizinische Fachmagazin The Lancet eine Studie, die davon ausgeht, dass durch die Kürzungen bei USAID bis 2030 rund 14 Millionen Menschen sterben werden, die andernfalls überlebt hätten, darunter 4,5 Millionen Kinder. Ursachen seien Krankheiten wie HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hätten die Programme von USAID das Überleben von mehr als 91 Millionen Menschen ermöglicht.

„Viele Auswirkungen werden wir erst über die nächsten Jahre erleben.“ Wenn sich eine NGO zurückzieht, kann sich das negativ auf lokale Akteure und die Zivilgesellschaft auswirken“, sagt Berlinger. „Wir steigen aus Sri Lanka aus, beenden Projekte in Kirgistan und Bangladesch. Damit erhalten weniger Menschen humanitäre Hilfe, eine Ausbildung und die Aussicht auf einen Job oder Unterstützung bei der Anpassung an den Klimawandel.

Verteidigung vs. Entwicklungszusammenarbeit?

Die Kürzungen in Europa geschehen vor dem Hintergrund knapper Kassen, wachsender Ungleichheit und neuer Kosten. „Das Fünf-Prozentziel der Nato hat Konsequenzen“, sagt Berlinger mit Blick auf die neue Sicherheitslage seit Beginn der Vollinvasion der Ukraine durch Russland. Der Mechanismus, der die Entwicklungszusammenarbeit trifft, ist allzu bekannt: „Es ist natürlich am leichtesten, bei der Auslandshilfe zu kürzen. Sie betrifft die eigenen Bürger unmittelbar am wenigsten. In so einem Zusammenhang ist es schwierig, für internationale Projekte und Solidarität zu lobbyieren.“ Im aktuellen Umfeld umso mehr. „Die Wahrnehmung der Sicherheit ändert sich. Das kann man verstehen. Überall Krisen und Kriege. Da ist es naheliegend, dass man das Militär aufrüstet. Wir als Helvetas sagen aber: Wir brauchen eine umfassende Sicherheit, eine Balance zwischen militärischer Wehrhaftigkeit und anderen strategischen Zielen.“

Man versuche seit Jahren das Verständnis dafür zu wecken, dass internationale Zusammenarbeit zentral für Stabilität und Sicherheit sei. „Entwicklungszusammenarbeit stärkt Demokratie, Mitsprache und Meinungsäußerungsfreiheit, und unterstützt internationalen Klimaschutz und zivile Friedensförderung. Wenn gekürzt wird, kommt all dies unter Druck, ebenso die Watchdog-Funktion der Zivilgesellschaft“, sagt Berlinger. „Wenn westliche Länder kürzen, schafft das ein Vakuum. Andere Länder sind zur Stelle, und nutzen das geschickt aus. Wobei sie oftmals nicht auf eine freie Zivilgesellschaft und demokratisch-rechtsstaatliche Strukturen setzen.

„Wir sind wohl der Bereich, der am stärksten evaluiert ist.“ Patrik Berlinger

Die Debatte leidet Berlingers Einschätzung nach auch unter den Vorstellungen darüber, wie Entwicklungszusammenarbeit funktioniert. „Es gibt da oft das vereinfachte Bild des Brunnenbauens, der Finanzierung einzelner Schulen. Hinzu kommt aber, dass wir uns für Demokratie und Menschenrechte, und für bessere politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen einsetzen. So wirkt sich Entwicklungszusammenarbeit systemisch auf die Lebensbedingungen der Menschen aus“, sagt Berlinger. „Damit gibt es auch ein wirtschaftliches Argument, wenn Märkte stabilisiert werden und Kooperationen mit dem Privatsektor entstehen, wenn Gesellschaften freier sind und Wertschöpfungsketten nachhaltiger werden.“

Zwischen den Interessen

Doch bei bürgerlichen Politikern verfange das oft nicht. Entsprechend verlaufen die Konfliktlinien. „Im Schweizer Parlament kann man oft den Vorwurf hören, dass die Entwicklungszusammenarbeit keine große Wirkung habe“, sagt Berlinger. „Dabei sind wir wohl der Bereich, der am stärksten evaluiert ist. Und es zeigt sich: Unser Impact ist groß.“

Für ihn stellt sich die Frage, wo die Bundesfinanzen am besten allokiert sind: „Die Schweiz beherbergt große internationale Organisationen, ist diplomatisch stark aufgestellt und besitzt eine hohe Glaubwürdigkeit in der Unterstützung von Demokratisierung und Menschenrechtsfragen. Wir müssten daher eher mehr in Entwicklungszusammenarbeit und humanitäres Engagement, in internationale Klimadiplomatie und Friedensvermittlung investieren.“

Politisch scheint kurzfristig wenig Hoffnung auf einen Kurswechsel zu bestehen. Im Non-Profit-Sektor laufen angesichts der europäischen Rückzugstendenzen Bemühungen, sich anzupassen. „Man geht vermehrt auf Stiftungen zu, setzt auf Philanthropie, hofft auf Vermächtnisse“, sagt Berlinger. Insgesamt versuche man sich breiter aufzustellen, weniger abhängig von öffentlicher Finanzierung zu werden. „Der Privatsektor wird wichtiger, auch auf Unternehmensseite.“

Stefan Dworschak ist Chefredakteur von DIE STIFTUNG. Zuvor war er nach einem Magisterstudium der Anglistik, Philosophie und Romanistik mit sprachwissenschaftlichem Schwerpunkt an den Universitäten Heidelberg und Sheffield in der Mantel- sowie Lokalredaktion einer Tageszeitung tätig.