Die Idee hatte Murat Vural 2006. Er saß damals in einer Konferenz in Hannover und langweilte sich, erzählt der Gründer und geschäftsführende Vorsitzende von Chancenwerk. Er fängt an, Kreise zu zeichnen: oben einer, darunter sechs, unten zwölf. Und schon war das Konzept entstanden. Ein Student, sechs Jugendliche, zwölf Kinder: die Lernkaskade.
Bei Chancenwerk dreht sich alles um Nachhilfe. Der gemeinnützige Verein setzt sich bundesweit für gleiche Bildungschancen ein. Dafür kooperiert er mit Partnerschulen, oft sogenannten Problemschulen. Sie sind Ansprechpartner, Vermittler und stellen Räumlichkeiten. „Mittlerweile sind das in etwa 90 Schulen in 36 Kommunen in elf Bundesländern“, sagt Vural. Mit Hilfe der Lernkaskade bekommen inzwischen fast 4.000 Kinder und Jugendliche Förderunterricht.
Eine Kaskade des Lernens
„Das Besondere beim Chancenwerk ist: Wir trauen den älteren Schülern zu, die jüngeren zu betreuen. So können wir eine sehr große Anzahl an Schülern fördern“, erklärt Vural. Durch die Lernkaskade würden vor allem die älteren Schüler nicht nur ihre Noten verbessern, sondern auch andere Sozialkompetenzen erlernen.

Beim Chancenwerk bekommen die älteren Schüler nicht nur Nachhilfe, sondern geben auch selber welche. Quelle: Chancenwerk
Laut ihm hat das Konzept viele Vorteile. Eins, sechs, zwölf: Der Student, meist im Fach Lehramt, profitiere, weil er das Lehren vor einer kleinen Klasse üben kann. Er gibt einen 90-minütigen Intensivkurs pro Woche für jeweils sechs Jugendliche, meist Neunt- oder Zehntklässler. Dafür bekommt der Student eine Übungsleiterpauschale.
Das Fach können die Jugendlichen sich aussuchen, bezahlen müssen sie nichts. Sie verpflichten sich allerdings, einmal pro Woche jüngere Schüler zu unterstützen. „Das ist gleich doppelt gut“, findet Vural. „Man lernt ja auch selbst, wenn man jemandem etwas beibringt. Außerdem merken die Jugendlichen, wie es ist, vor einer Klasse zu stehen, und benehmen sich dann vielleicht auch ihren Lehrern gegenüber besser.“
Die jüngeren Schüler, zwölf Kinder, bekommen zwei Unterrichtseinheiten pro Woche – mit jeweils drei Jugendlichen und einem Studierenden als Lehrer. Dafür bezahlen die Eltern der Kinder in der Regel 20 Euro pro Monat. „Damit sind natürlich nicht alle Kosten gedeckt. Wir rechnen mit zusätzlich etwa 500 Euro pro Kind und Jahr“, erklärt Vural.
In der Rechnung fehlen also noch rund 40 Euro pro Kind und Monat – diese finanzieren zum großen Teil rund 40 Stiftungen und private Spender. „Dank der Stiftungen zahlen die Eltern der Kinder nur einen geringen Beitrag. So bewahren wir Kinder und Jugendliche, die sich sonst keinen Nachhilfeunterricht leisten könnten, davor, durch das Bildungssystem zu fallen.“
Löchriges Bildungssystem
Murat Vural ist anzumerken, dass ihm das Thema am Herzen liegt. Er gründete den Verein „aus Betroffenheit heraus“, wie er sagt. Initiatorin war seine Schwester, Şerife Vural. Die Eltern der beiden Geschwister waren als türkische Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, wo Murat Vural 1975 geboren wurde. „Unser Vater arbeitete unter Tage“, sagt Vural. „Dafür musste man kein Deutsch sprechen können. Zu Hause sprachen wir Türkisch. Auf der Straße sprachen wir Türkisch. Wir lebten in einem Einwandererviertel.“
Als Vural mit sechs Jahren in die Schule kam, konnte er kein Wort Deutsch. Er habe sich damals verloren gefühlt. Vor allem das Zuspätkommen habe ihm große Angst gemacht. „Da muss man sich vor der gesamten Klasse entschuldigen. Aber einen einfachen Satz wie ‚Mein Wecker hat nicht geklingelt‘, konnte ich doch nicht sagen.“

Murat Vural hatte viel mit Vorurteilen zu kämpfen. Quelle: Chancenwerk
Nach der Grundschule ging es für Vural auf die Hauptschule. Auch dort behinderten ihn seine mangelnden Deutschkenntnisse. „Ich hatte damals kein Selbstvertrauen“, erinnert er sich. Die Wendung kam, als die Eltern mit ihren Kindern, Murat damals elf Jahre alt, zurück in die Türkei gingen. Dort habe man sein Potential erkannt, er war begabt in Mathematik. Die Sprache stellte keine Barriere mehr dar, man schickte ihn auf eine Eliteschule. Nach fünf Jahren ging es für die Familie dann wieder nach Deutschland.
Zurück in Deutschland bedeutete auch zurück auf die Hauptschule. „Ich wusste nun, dass ich Ingenieur werden wollte“, erzählt Vural. Für seine Vision erntete er zunächst Hohn und Spott. Vural wiederholte die zehnte Klasse und schloss schließlich die Hauptschule als Jahrgangsbester ab. Er kam aufs Gymnasium. Dort sei es weitergegangen mit der Skepsis. „Wir waren damals 17 Quereinsteiger. Man sagte uns, das Abitur würden höchstens drei von uns schaffen, wir sollten besser gleich aufgeben“, erinnert er sich.
Letztendlich schafften sogar nur zwei der Quereinsteiger das Abitur. Murat Vural war einer davon. Er studierte Elektrotechnik und wurde Ingenieur. Während er promovierte, machte seine jüngere Schwester ähnliche Erfahrungen. „Bruder, wir müssen was tun“, habe sie zu ihm gesagt. Also beschlossen sie, den Verein zu gründen und etwas für Kinder zu tun, die in der gleichen Situation waren wie sie selbst.
Chancengleichheit
Das war 2004, zunächst gaben die beiden gemeinsam mit Studenten ehrenamtlich Kurse. Nach zwei Jahren hatte Vural die Idee mit der Lernkaskade. Dank mehreren Preisen und einem Stipendium konnte er sich sich komplett auf den Verein konzentrieren. „Das fing klein an und baute aufeinander auf. Wir erreichten immer mehr Sichtbarkeit“, sagt er.
Es sei sein Traum gewesen, Ingenieur zu werden, weil er etwas revolutionieren wollte. „Das tue ich ja auch mit dem Verein. Deshalb habe ich es nie bereut, dass ich meinen Job aufgegeben habe“, sagt Vural. Auch seine Schwester arbeitet Vollzeit für Chancenwerk: Sie ist operative Geschäftsleiterin. Inzwischen hat der Verein rund 50 feste Mitarbeiter.

An 90 Schulen sorgt Chancenwerk bereits für Nachhilfeunterricht – in Zukunft sollen es aber noch viel mehr werden. Quelle: Chancenwerk
In Zukunft möchte Vural noch deutlich mehr Schulen zum Partner machen. „Dafür brauchen wir ein neues Konzept, das standardisiert ist“, erklärt er. Ein solches ist seit diesem Jahr in der Testphase, es nennt sich Cosinus (Chancenwerk Online-System für Individualförderung in Naturwissenschaft und Sprache). Die Schüler machen zunächst einen Test und bekommen dann individuell auf sie zugeschnittene Lernhefte, die das Chancenwerk zusammen mit Pädagogen erarbeitet.
„Die Schwierigkeiten in der Schule fangen meist früh an, da muss man von Anfang an alles aufarbeiten“, sagt Vural. „Das gibt den Kindern auch mehr Selbstvertrauen. Und das brauchen sie, um unser Bildungssystem zu meistern.“ Ein Kind mit ausländischen Wurzeln habe ihn einmal gefragt, ob es überhaupt in Deutschland studieren dürfe. „Es kann einfach nicht sein, dass Kinder so etwas nicht wissen und dass sie vom Bildungssystem entmutigt werden“, findet Vural. Sein Ziel ist es, mit dem Verein dafür zu sorgen, dass jeder Schüler sein Potential erkennt und Chancen auf faire Bildung bekommt.