Computerspiele als Kulturgut? Das klingt auch für eine Stiftung exotisch. Çigdem Uzunoglu, die Geschäftsführerin der Berliner Stiftung Digitale Spielekultur, berichtet im Interview über das Potential von Games in der Bildung, Rennspiele im Mathe-Unterricht und zockende Chirurgen.

Sie haben die Stiftung Digitale Spielekultur in einer Diskussion als einzigartig bezeichnet. Inwiefern ist sie das?
Çigdem Uzunoglu: Wir sind als Stiftung darin ein­zigartig, dass wir die Potentiale von Games jenseits von Unterhaltung aufzeigen. Natürlich gibt es ande­re Institutionen, die sich dem Thema von anderer Seite nähern, aber die sind entweder staatliche Ein­richtungen oder Universitäten. Dass die Games-Branche eine Stiftung ins Leben gerufen hat, das ist bisher weltweit einzigartig.

Games Stiftung Computerspiele

Zugang zu Games haben Jugendliche – die Brücke zu kultureller Bildung will die Stiftung bauen. Foto: Charles Yunck

Wenn Sie eines der Stiftungsprojekte besonders her­vorheben dürften: Welches wäre das?
Uzunoglu: Vorweg: Wir sind eine operativ tätige Stiftung und fördern keine externen Projekte. Es gibt mehrere Meilensteine, die wir im Kontext mit Games gesetzt haben, zum Beispiel um aufzuzeigen, wie mit Games Erinnerungskultur im digitalen Zeit­alter lebendig gestaltet werden kann – vor allem vor dem Hintergrund des Ablebens der letzten Zeitzeu­gen. Als wir uns des Themas angenommen haben, haben viele gesagt: „Was für ein sensibles Thema! Gerade dieses mit Games zu verbinden, seid ihr euch da sicher?“ Für mich war selbstverständlich, dass Erinnern und Games zusammengehören, denn viele Spiele spielen in einem historischen Kontext. Dies als Vermittlungsmedium zu nutzen und auch erinnerungskulturelle Themen aufzugreifen, lag auf der Hand. Seitdem haben wir einiges erreicht: Nicht nur dass Gedenkstätten und Museen Games für ihre Vermittlungsarbeit einsetzen und entwickeln las­sen, sondern auch dass Games stärker als Kulturgut und Vermittlungsmedium wahrgenommen werden.

„In New York gab es ein Krankenhaus, in dem der Chefchirurg seinen Chirurgen verordnet hat, ein paar Stunden in der Woche zu spielen.“
Çigdem Uzunoglu, Stiftung Digitale Spielekultur

Wie sehen die Projekte Ihrer Stiftung aus?
Uzunoglu: Die Stiftungsarbeit hat drei Bereiche: Wir entwickeln Studien, in denen wir gemeinsam mit Experten aufzeigen, welchen Beitrag Games bei gesellschaftlichen Herausforderungen leisten kön­nen. Darüber hinaus informieren wir anhand von Fachkonferenzen eine breite Öffentlichkeit über Chancen und Potentiale von Games anhand von spezifischen Themen. Bei der Fachkonferenz „One Planet Left“ ging es im vergangenen Jahr zum Bei­spiel um die Klimakrise und die Frage, was digitale Spiele im Bereich Umweltbildung leisten können. Auf der Konferenz haben wir mit Experten aus der Games-Branche und der Zivilgesellschaft über Po­tentiale von Games gesprochen. Aber auch darü­ber, wo Games – sei es in der Produktion oder Nut­zung – kritisch sein können. Im dritten Bereich zei­gen wir anhand von regionalen und bundesweiten Projekten auf, wie Games themenbezogen in der Praxis, jenseits von Entertainment, eingesetzt wer­den können. Dabei spielen Themenschwerpunkte wie Erinnerungskultur, Wertebildung, digitale Bil­dung, das Stärken von Medienkompetenz oder die Ausbildung der Sozialkompetenzen mit Games eine große Rolle. Wir veranstalten im Rahmen dieser Projekte zum Beispiel Workshops, Feriencamps und Projekttage an Schulen oder in außerschuli­schen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche oder junge Erwachsene.

Computerspiele und Stiftung

Bei dem Game Camp in Neuruppin ging es um das Planen und Entwerfen von Computerspielen. Foto: Jenny Neufeld/Stiftung Digitale Spielekultur

Umwelt und Games, passt das zusammen?
Uzunoglu: Umwelt und Games passen sogar her­vorragend zusammen, weil es ganz spannende Spie­le gibt, die sich mit dem Thema „Klimakrise und Schutz der Umwelt“ auseinandersetzen. Bei „Beyond Blue“ geht es etwa um den Schutz der Meere. In diesem Game spielt man eine Wissen­schaftlerin, man taucht unter Wasser ein, sieht die Verschmutzung, aber auch die Vielfältigkeit der Un­terwasserwelt. Das macht dieses Thema erfahrbar, denn viele Games sind immersiv. Ein anderes Spiel, „Imagine Earth“, spielt auf einem fiktiven Planeten. Dort geht es um Ressourcenverbrauch. Gehe ich mit den Ressourcen so um, dass auch zukünftige fiktive Zivilisationen auf diesem Planeten eine Chan­ce haben? Das sind Erfahrungen, die man als Gamer mitgestaltet. Denn jede Entscheidung, die man in ei­nem Spiel trifft, hat Konsequenzen für den Spieler.

Die Stiftung entwickelt folglich keine eigenen Spiele?
Uzunoglu: Nein, wir setzen im Kontext unserer Arbeit Games ein und zeigen auf, welche Potentiale sie jenseits von Entertainment haben. Wie zum Bei­spiel bei unserer Initiative „Erinnern mit Games“. Hier zeigen wir anhand einer kuratierten Datenbank auf, welche digitalen Spiele in welchem histori­schen Kontext wie angewendet werden können. Da­für schauen sich Geschichtswissenschaftler Spiele unter historischen Gesichtspunkten an und bewer­ten für die Datenbank, welche Spiele besonders ge­eignet sind, um historische Themen zu vermitteln. So gibt es etwa Spiele, die im Zeitalter des Kolonia­lismus spielen, aber nicht explizit über Kolonialis­mus sprechen. Dann können wir diese Spiele als Beispiele für eine lückenhafte Geschichtsdarstel­lung nehmen und über diese Lücken und somit auch über das Thema anhand des Spiels diskutie­ren.

Wirken Spiele, die auf das Lernen ausgerichtet sind, nicht häufig bemüht?
Uzunoglu: Die sogenannten Serious Games wer­den entwickelt, um Lerninhalte zu vermitteln. Aber wir setzen auch Unterhaltungsspiele ein und zeigen die Potentiale für die Wissensvermittlung auf. Ich bin der Meinung, dass man mit fast allen Spielen Wissen vermitteln und Kompetenzen stärken kann, man muss sie nur in einen Kontext setzen und di­daktisch aufarbeiten. Dann können Sie auch mit „Mario Kart“ Wahrscheinlichkeitsrechnung vermit­teln. Genau das haben wir getan: In einem Projekt haben wir mit Jugendlichen überlegt, mit welcher Wahrscheinlichkeit man in diesem Rennspiel be­stimmte Hilfsgegenstände je nach Platzierung im Fahrerfeld erhält. Die Lehrkräfte meinten, dass sie nie erlebt hätten, dass die Klasse so angeregt und motiviert mitgemacht hätte und auch zurückhalten­de Schüler sich rege beteiligt hätten. Wenn wir Wissen und Inhalte mit digitalen Spielen vermitteln, die sie aus ihrem Alltag kennen, ist die Offenheit und die Motivation im Unterricht eine ganz andere.

Computerspiele, Games-Workshop von Stiftungen

Entwerfen, zeichnen, programmieren: In einem Computerspiel steckt viel Arbeit. Foto: Charles Yunck

Bei dem Projekt „Stärker mit Games“ ging es darum, wie Games der sozialen Benachteiligung entgegen­wirken können. Können sie das?
Uzunoglu: Im Fontane-Jahr 2019 hatten wir einen Ferien-Workshop in Neuruppin, an dem Kinder aus sogenannten sozial benachteiligten beziehungswei­se bildungsfernen Familien an einem Feriencamp teilnehmen konnten. Die wenigsten der Jugendli­chen hatten sich davor von sich aus mit Theodor Fontane auseinandergesetzt. Gemeinsam mit Medi­enpädagogen haben die Jugendlichen sich mit ver­schiedenen Stationen von Fontanes Lebens befasst und daraus eigene Spielideen entwickelt. Die Kin­der haben sich auf diese Weise zehn Tage lang mit den Werken des Autors beschäftigt und Spiele und Escape-Rooms dazu entwickelt. Am Ende waren die Schüler über das Leben Fontanes derart informiert, dass viele Lehrkräfte erstaunt waren. Und darum geht es: Dass wir mit digitalen Spielen den Jugendli­chen Themen der kulturellen Bildung näherbringen wollen, zu denen sie sonst keinen Zugang hätten. Den Zugang zu Games aber haben sie.

Wir sprechen gerade über die positiven Seiten von Computerspielen. Es gibt aber auch Kritik an Compu­terspielen, etwa in Bezug auf Sucht oder eine verrin­gerte Konzentrationsfähigkeit durch zu viel Zeit vor dem Computer oder der Konsole.
Uzunoglu: Wir schauen uns auch die kritischen Aspekte an. Mit dem Thema Computersucht befas­sen wir uns nicht dezidiert. Meines Wissens fehlt hier auch die notwendige wissenschaftliche Basis, denn viele Mediziner sehen es kritisch, exzessives Spielen als eigenständiges Krankheitsbild zu be­schreiben. Ich kann auch dem Vorwurf widerspre­chen, dass die Konzentration durch Computerspie­le nachlässt. Eher im Gegenteil: Es gibt Studien dazu, dass Computerspiele die Konzentration und das Denkvermögen, besonders das schnelle Den­ken, fördern. Bei einem Computerspiel muss man schnell reagieren und sich häufig sehr schnell ent­scheiden, ob man sich duckt, springt oder nach links oder rechts bewegt. Dieser Art von Entschei­dungen muss man im Bruchteil von Sekunden tref­fen, und eine Studie des Max-Planck-Instituts bestä­tigt sogar, dass das Spielen von Games die Schnel­ligkeit der Koordination von Fingern und Gehirn schult. In New York gab es ein Krankenhaus, in dem der Chefchirurg seinen Chirurgen verordnet hat, ein paar Stunden in der Woche zu spielen, weil es die Fingerfertigkeit trainiert. Die Potentiale des Spielens sind noch nicht in Gänze erforscht.

Die Stiftung ist der Rechtsform nach eine gGmbH. Gibt es eine Satzung?
Uzunoglu: Ja, wir haben natürlich eine Satzung. Unser Gesellschafter ist der Game-Verband der deutschen Games-Branche. Wir haben einen Beirat, zu dem unter anderem die Bundeszentrale für poli­tische Bildung zählt, das Bundesfamilienministeri­um, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und weitere wichtige Akteure aus Ge­sellschaft und Politik. Durch den Game-Verband be­kommen wir eine Sockelfinanzierung, aber die Pro­jekte sind fast alle durch Drittmittel finanziert. Wir entwickeln Projekte, akquirieren das Geld und set­zen die Projekte mit den Partnern um. Wir sind eine unabhängige und neutrale Stiftung, auch wenn wir uns als die Stiftung der deutschen Games-Branche bezeichnen.

Sie betreiben also keine Lobbyarbeit?
Uzunoglu: Jede Stiftung betreibt für ihren Stif­tungszweck oder für bestimmte Themenfelder in gewisser Weise Lobbyarbeit. Selbst eine Fußball­stiftung betreibt Arbeit für eine Sache. Wir zeigen Potentiale und Chancen von Games auf, weil digita­le Spiele heute eine viel wichtigere Rolle im Leben vieler Menschen spielen, als im öffentlichen Dis­kurs oft suggeriert wird. Diese Reichweite, diesen Einfluss sollte sich die Gesellschaft unserer Mei­nung nach zunutze machen.

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