Was hat Russlands Angriff auf die Ukraine für die Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch und die Mitarbeiter bedeutet?
Philipp Stemmer-Zorn: Wir raten momentan von Jugendbegegnungen mit Russland ab – das zeigt die Paradoxie, mit der wir gerade leben. Unser Kerngeschäft sollte genau das Gegenteil sein, nämlich den Jugend- und Schulaustausch mit Russland zu fördern und zu erweitern. Schüler- und Jugendaustausch ist nach unserem Verständnis ein wichtiges Instrument, um Frieden und Verständigung unter jungen Menschen aus unterschiedlichen Ländern zu fördern. Durch den Angriff auf die Ukraine wurde quasi das gemeinsame Wertefundament zerstört, auf dem unsere Kooperation mit der Russischen Föderation fußte. Als Konsequenz haben wir die Zusammenarbeit mit unserem russischen Partnerbüro bzw. sämtlichen staatlichen Strukturen eingestellt. Grundlage unserer Stiftung ist das Regierungsabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Russischen Föderation über jugendpolitische Zusammenarbeit. Darin haben beide Länder vereinbart, jeweils ein nationales Koordinierungsbüro zur Umsetzung des Abkommens einzurichten. Für Deutschland ist dies die Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch. Für unsere Mitarbeitenden war der Krieg natürlich ein Schock. Wir alle stellten uns die Frage: Was machen wir jetzt, was ist unsere Aufgabe? Eine Sinnkrise, schließlich hat man sich viele Jahre für das Thema eingesetzt, und der Wert dieser Arbeit fühlte sich in Frage gestellt. Wir haben auch Mitarbeitende aus der Ukraine, besonders sie stellten sich die Frage: Arbeite ich für die Falschen? Nach dem ersten Schock arbeiten wir nun an den Fragen: Was geht trotzdem noch, was ist sinnvoll, was bleibt an Handlungsspielräumen?
Welche Art von Kooperation mit russischen Partnern ist aktuell noch möglich, nachdem staatliche Stellen ausscheiden und auch Reisen zwischen beiden Ländern nur über Umwege möglich sind?

Stemmer-Zorn: Die zwischenstaatliche Kooperation ist auf Eis gelegt, mindestens solange der Krieg anhält. Die meisten Träger der Jugendarbeit und Schulen, die in der Vergangenheit Jugendaustausche mit Russland durchführten, haben ihre Projekte eingestellt. Wir ermutigen sie jedoch, weiterhin Kontakt zu halten, um später den Austausch reaktivieren zu können, sofern es sich um nichtstaatliche Stellen handelt. Einzelne Träger führen Begegnungen in Drittstatten durch, etwa in der Türkei oder in Georgien. Durch die Verschärfung des russischen Strafrechts müssen wir aber stets die Gefährdung der Teilnehmenden und Organisatoren bedenken, wenn sie sich kritisch zum Krieg äußern, und auch was die Einstufung als „ausländische Agenten“ angeht. Im Dialog mit den betroffenen Fach- und Lehrkräften versuchen wir, uns dieses Jahr Orientierung für den Umgang mit dem Thema Krieg in den deutsch-russischen Partnerschaften zu geben. Was wir momentan anbieten, sind digitale Expertengespräche zu Themen wie Friedensarbeit und Umgang mit Konflikten. Es können weiterhin Anträge auf Förderung von Hospitationen von russischen Fachkräften in Deutschland oder für Kleinprojekte in Deutschland zum Thema Krieg gestellt werden. Das ist natürlich kein Vergleich zum Förderumfang vor der Pandemie: Waren es damals um die 600 Maßnahmen jährlich, sind es nun ein Dutzend, einige davon nicht mal bilateral. Was ebenfalls weiterhin funktioniert, sind unsere Sprachanimationsangebote. Durch eine Erweiterung der Sprachanimationsangebote um Ukrainisch konnten wir in einem Sommercamp das Einleben von ukrainischen Geflüchteten unterstützen. Im Oktober und Dezember letzten Jahres haben wir zudem, zusammen mit dem Deutsch-Polnischen Jugendwerk, zwei Veranstaltungen zur Jugendarbeit mit ukrainischen und deutschen Fachkräften durchgeführt.
Was planen Sie für die Zeit nach dem Krieg und einer mittelfristigen Entspannung? Ist eine Rückkehr zum Status quo ante in Ihrer Arbeit möglich? Was wäre dafür notwendig?
Stemmer-Zorn: Das ist wahnsinnig schwierig einzuschätzen und hängt natürlich vom weiteren Kriegsverlauf bzw. seinem Ende ab. Was das Thema Austausch an sich angeht, bin ich verhalten optimistisch: Der Auftrag, die Verständigung von deutschen und russischen Jugendlichen zu fördern, macht weiterhin Sinn, und ich hoffe, dass es irgendwann auch wieder Jugendaustausch und Schulaustausch mit Russland geben wird. Wie sich die zwischenstaatliche Zusammenarbeit entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Dies wird von der weiteren Zusammenarbeit der Regierungen Deutschlands und Russlands abhängen.
Inwiefern hat ukrainische Sprache, Kultur und Perspektive in Ihrer Arbeit an Bedeutung gewonnen? Wie war die Situation vor dem 24. Februar 2022?
Stemmer-Zorn: Die Arbeit der Stiftung war naturgemäß zentral auf Russland ausgerichtet. Die Ukraine oder auch andere Länder der ehemaligen Sowjetunion spielten bis zum Kriegsbeginn für uns formal keine Rolle. Aufgrund eines Beschlusses der Gesellschafterversammlung war es uns aber im vergangenen Jahr ausnahmsweise möglich, Ferienlager für geflüchtete ukrainische Jugendliche zu unterstützen.
„Eine Gesetzesverschärfung in Russland im Dezember 2022 hat die Möglichkeiten, den Kontakt zu halten, vermutlich noch weiter eingeschränkt.“
Philipp Stemmer-Zorn
Die Stiftung DRJA ist rechtlich eine gGmbH. Was bedeutet das in der aktuellen Situation, gerade auch im Vergleich zur Rechtsform Stiftung? Wie wäre sie als Stiftung angesichts der aktuellen und perspektivischen Situation überlebensfähig?
Stemmer-Zorn: Rein formal gesehen: Ein Gesellschaftsvertrag lässt sich einfacher anpassen als ein Stiftungszweck. Es braucht dafür nur einen Gesellschafterbeschluss. Dadurch wären wir prinzipiell flexibler als eine klassische Stiftung. Da wir aber in öffentlich-privater Partnerschaft gegründet wurden, sind wir nicht ganz so autonom, sondern immer auch in politische Programmatiken von Bundes- und Landespolitik eingebunden.
Wie hat sich das Verhältnis zu Kooperationspartnern entwickelt? Gibt es noch persönlichen Austausch oder dominiert Sprachlosigkeit?
Stemmer-Zorn: Wir haben unseren Partnerbüros in Russland zu Beginn des Krieges mitgeteilt, dass es keine Kooperation mit staatlichen Strukturen mehr geben kann. Vereinzelter Kontakt existiert noch auf persönlicher Ebene. Aber da es keine gemeinsamen Projekte mehr gibt, gibt es auf geschäftlicher Ebene nicht mehr viel zu besprechen. Auf Ebene der durchführenden Organisationen sieht es – wie erwähnt – sehr unterschiedlich aus. Insbesondere für Organisationen und Akteure der unabhängigen russischen Zivilgesellschaft hat der Austausch unter Fachkräften eine hohe Bedeutung, dass Kontakt gehalten wird und sie sich gesehen fühlen. Eine Gesetzesverschärfung in Russland im Dezember 2022 hat die Möglichkeiten, den Kontakt zu halten, vermutlich noch weiter eingeschränkt. Seitdem droht allen Personen, die unter einem nicht näher definierten „ausländischen Einfluss stehen“, dass sie zu einem ausländischen Agenten erklärt werden. Damit sind in Russland zahlreiche staatliche Repressionen verbunden.
Gab es trotz allem in den letzten Monaten Lichtblicke?
Stemmer-Zorn: Ja, zum Beispiel die bereits erwähnten Veranstaltungen mit ukrainischen Fachkräften waren beeindruckend. Die Teilnehmenden aus der Ukraine haben trotz Krieg und Leid unheimlich viel Energie, Dinge in die Zukunft zu denken. Es war erstaunlich, wie viel Dynamik da war. Ich freue mich auch immer wieder über das Engagement und die Kreativität unseres Teams, die Akteure mit neuen Gesprächs- und Beratungsformaten unterstützen. Es ist eben auch spannend, ganz neue Angebote für Aktive im Austausch zu entwickeln. Unsere Arbeit ist sicher nicht leichter geworden, aber mit Sicherheit nicht weniger wichtig.
Stefan Dworschak ist Chefredakteur von DIE STIFTUNG. Zuvor war er nach einem Magisterstudium der Anglistik, Philosophie und Romanistik mit sprachwissenschaftlichem Schwerpunkt an den Universitäten Heidelberg und Sheffield in der Mantel- sowie Lokalredaktion einer Tageszeitung tätig.

