Julana ist ein Mädchen – das wisse sie, seit sie neun ist, sagt sie. Heute ist Julana elf Jahre alt. Sie sitzt gemeinsam mit ihren Eltern vor der Computerkamera und gibt zum ersten Mal ein Interview. „Es gibt ein großes Aber“, erklärt Julana und hebt den rechten Zeigefinger: Schon als kleines Kind habe sie gemerkt, dass sie anders sei als andere Kinder. „In meinem tiefsten Inneren wusste ich, dass ich ein Mädchen bin – aber ich wurde als Junge angeredet“, erinnert sie sich und rümpft die Nase. Heute sieht Julana aus wie eine typische Elfjährige. Sie trägt ein geblümtes Kleid, einen Zopf mit lila Haargummi und hat ihre Fingernägel lackiert – ebenfalls lila.

Julana ist elf Jahre alt. Sie hat sich im Alter von neun Jahren als Mädchen geoutet. ©M. Hornfischer
Verstanden, was mit ihr los sei, habe sie durch einen Zufall an einem Donnerstag. Ihr Vater sah sich eine Dokumentation über Transgender an. Julana sollte währenddessen eigentlich mit dem Tablet spielen, erzählt der Vater, stand aber plötzlich vor ihm, zeigte auf den Fernseher und sagte, sie fühle sich genauso. „Als die Sendung über Transgender-Menschen kam, wusste ich das einfach“, sagt Julana. „Am Freitag hat Papa dann gesagt, ich soll das nicht in der Schule erzählen“, erinnert sie sich.
„Als die Sendung über Transgender-Menschen kam, wusste ich das einfach.“ – Julana
„Man macht natürlich keine Freudensprünge, wenn sich das Kind als transident outet – man sorgt sich“, wirft Julanas Mutter ein. Julana fängt herzlich an zu lachen. „Dann hab’ ich alles vermasselt“, sagt sie, jetzt schelmisch grinsend. Julana habe sich vor die Klasse gestellt und gesagt, dass sie ein Mädchen sei und ab jetzt auch so behandelt werden wolle, schildert sie. Mutig sei das nicht gewesen, stattdessen eine Notwendigkeit, weil es nicht mehr anders ging, beschreibt ihre Mutter.
Geschlechtsidentität
Als Kind, das sich nicht mit dem biologischen Geburtsgeschlecht identifiziert, steht Julana nicht alleine da. Personen, deren Geschlechtsidentität teilweise, nicht oder nicht immer mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt, werden als Trans bezeichnet. Auch gibt es Menschen, die eine binäre Zuordnung komplett ablehnen. Der Bundesverband Trans vermutet, dass mindestens ein Prozent der Bevölkerung Transmenschen sind. Statistische Erhebungen gibt es bisher allerdings nicht.
„Der Begriff Trans wurde von Magnus Hirschfeld im Rahmen seiner Forschung zur sexuellen Varianz geprägt“, sagt Jörg Litwinschuh-Barthel, geschäftsführender Vorstand der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. Die Stiftung wurde 2011 von der Bundesrepublik Deutschland gegründet, um dazu beizutragen, die Diskriminierung von homosexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Menschen abzubauen. Die Bezeichnung Trans habe der Sexualwissenschaftler und Mitbegründer der ersten Homosexuellenbewegung Hirschfeld bereits 1912 verwendet. Seit den 1990ern nehme die öffentliche Relevanz zu. „Es fehlt leider immer noch an Akzeptanz und Gleichstellung“, sagt Litwinschuh-Barthel, deshalb würden Unwissenheit und Vorurteile noch vorherrschen. Die Stiftung unterstützt die Vernetzung von Politik, Medien und Wissenschaft mit Einzelpersonen und Trans-Verbänden, um für mehr Anerkennung von Trans zu sorgen. Zudem fördert sie Projekte, die sich für geschlechtliche Vielfalt einsetzen. So hat die Stiftung etwa eine Transausstellung im Schwulen Museum Berlin und ein Integrationsprogramm mitfinanziert, das Transmenschen eine bessere Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt ermöglichen soll.
Während Beratungsstellen und Psychologen beobachten, dass sich immer mehr Menschen als Trans outen, dürfte auch die Dunkelziffer hoch sein. Denn nach wie vor werden Betroffene häufig diskriminiert. „Das in der Gesellschaft verankerte binäre Geschlechtsmodell, das ausschließlich männlich und weiblich kennt, benachteiligt Menschen, die sich nicht eindeutig geschlechtlich verorten können oder wollen, und stellt deren Existenz infrage“, führt die Antidiskriminierungsstelle des Bundes aus. Das führe zur Ausgrenzung derjenigen, deren Geschlecht, Geschlechtsidentität oder Geschlechtsausdruck nicht den sozialen Erwartungen entspreche.
„Es fehlt leider immer noch an Akzeptanz und Gleichstellung.“ – Jörg Litwinschuh-Barthel
Diskriminierung
„Die Mädchen haben alle gut reagiert, als ich mich geoutet habe“, erinnert sich Julana. Dann wird sie still, schüttelt den Kopf und bittet ihre Mutter, die Frage zu beantworten, was ihre Klassenkameraden zum Outing gesagt hätten. „Die Jungs haben Julana gemobbt – das war ein hartes halbes Jahr. Am schlimmsten war aber ihre damalige Lehrerin“, erläutert ihre Mutter. „Du bist doch kein Mädchen“, habe sie immer wieder gesagt und behauptet, die Eltern würden Julana ihre Transidentität einreden. „Im Gegenteil“, sagt Julana, „Mama hat mich immer wieder gefragt, ob ich immer noch ein Mädchen bin … Natürlich!“ Um ihre Eltern zu überzeugen, habe sie eine Idee gehabt, sagt Julana. Sie malte täglich eine von zwei Zeichnungen aus, je nachdem, wie sie sich fühlte – die eines Mädchens und die eines Jungen. „Das Mädchen war nach drei Tagen knallrosa und der Junge hatte blaue Füße“, sagt ihre Mutter, verdreht die Augen und lacht.
Mitten im Jahr gelang es Julanas Eltern, einen Klassenwechsel für ihre Tochter zu veranlassen. „Mein Leben hat sich total verändert, weil ich mich geoutet hab“, beschreibt Julana, „es ist aufgeblüht.“ Ihre Eltern sagen: „Sie hat sich befreit.“ Vorher sei sie introvertiert, zurückgezogen und still gewesen. Julana habe bis zu ihrem neunten Lebensjahr nicht schwimmen können und springe jetzt vom Dreimeterturm. Auch Fahrradfahren habe sie erst nach ihrem Outing gelernt. Außerdem hätten ihre Noten sich verbessert – von Vierern und Fünfern auf einen Zweierschnitt, mit dem sie nun auf das Gymnasium geht. Während das Lehrpersonal auf der neuen Schule eingeweiht ist, wissen Julanas Mitschüler nichts davon, dass sie zuvor als Junge aufgewachsen ist. „Das lasse ich verschlossen“, sagt Julana. Nur ihre Freundinnen von der alten Schule wüssten Bescheid.
Hormontherapie
Mit elf Jahren steht Julana allerdings die Pubertät bevor. „Vor der Pubertät brauchen Transkinder keine medizinischen Maßnahmen“, heißt es in einem Flyer vom Bundesfamilienministerium. Die Pubertät würden vielen Transjugendliche aber als große Not erleben, da sich der Körper unumkehrbar in eine für sie falsche Richtung verändere. „Haare wachsen an Stellen, wo sie nicht sein sollten, Brüste, Adamsapfel, Bart werden sichtbar.“ Die biologische Pubertät kann zunächst durch GNRH-Analoga, auch Pubertätsblocker genannt, pausiert werden. Deren Wirkung gilt als umkehrbar. Später können die Jugendlichen die gegengeschlechtlichen Hormone nehmen, Testosteron oder Östrogen, um eine Pubertät im Identitätsgeschlecht einzuleiten. Vor allem die Einnahme der Hormone stellt eine unumkehrbare Entscheidung und einen erheblichen Eingriff in den Körper dar. Bei Kindern diskutieren Mediziner, Psychologen und Politik deshalb kontrovers.
„Die Pubertät abzuwarten, bevor medikamentöse oder operative Behandlungen erfolgen, hat häufig schwerwiegende Folgen.” – Jörg Litwinschuh-Barthel

Jörg Litwinschuh-Barthel ist geschäftsführender Vorstand der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. © BMH | Sabine Hauf
„In Deutschland herrscht noch kein öffentlicher Konsens, dass Transkinder und -jugendliche mehr Unterstützung benötigen“, sagt Litwinschuh-Barthel von der Magnus-Hirschfeld-Stiftung. Viele seien der Meinung, Kinder könnten und dürften nicht selbst über ihr Geschlecht bestimmen. „Ich sehe das differenzierter“, sagt der geschäftsführende Vorstand. „Die Pubertät abzuwarten, bevor medikamentöse oder operative Behandlungen erfolgen, hat häufig schwerwiegende Folgen – denn nach der Pubertät sind solche Behandlungen sehr viel aufwendiger und belastender für die betroffene Person.“ Unterstellungen, dass Eltern ihre Transkinder beeinflussen würden, seien auch ihm bekannt. Allerdings gibt er zu bedenken, dass die Betroffenen von Beratungseinrichtungen, Psychologen und Ärzten begleitet werden, bevor es zu medikamentösen oder operativen Behandlungen kommt. „Einige Kritiker unterstellen auch, dass Kinder und Jugendliche die Transition später bereuen würden“, sagt Litwinschuh-Barthel. Die Quote sei jedoch sehr gering. „Es ist wichtig, dass wir die Beratung stärken und auch Ärzte und Therapeuten aufklären, die häufig selbst noch Vorurteile haben und Trans diskriminieren“, so Litwinschuh-Barthel.
Geschlechtsdysphorie
Ein Kritiker der Pubertätsblockade und Hormontherapie für Kinder und Jugendliche ist Alexander Korte, Oberarzt an der Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie an der Uniklinik München. „Der Terminus Transsexuell ist reserviert für Personen mit weitgehend abgeschlossener psychosexueller Entwicklung – davon kann bei Kindern nicht die Rede sein“, sagt er. Kinder, die Symptome der Geschlechtsinkongruenz und -dysphorie äußern würden, gebe es natürlich. Ersteres bedeute, dass das geschlechtsbezogene Identitätsgefühl nicht mit den Geschlechtsmerkmalen des Körpers übereinstimme, Letzteres beinhalte ein Leiden. „Ein Großteil der Kinder versöhnt sich wieder mit dem Geburtsgeschlecht“, sagt Korte. Maximal 30 Prozent würden dauerhaft bei der Geschlechtsidentitätstransposition bleiben, führt er aus.
Die Ursachen für eine Geschlechtsdysphorie sind bis heute unbekannt. Während einige Kollegen der Ansicht seien, diese wäre angeboren, vermutet Korte, die Geschlechtsidentität würde auch durch umweltbedingte Einflüsse während der frühen Kindheit geprägt werden. Geschlechtsdysphorie würde deutlich unter einem Prozent der Bevölkerung betreffen, sagt er. In den letzten Jahren habe es aber eine fast exponentielle Zunahme an Menschen gegeben, die Beratung suchten. „Die Pubertätsblockade führt mit 100-prozentiger Wahrscheinlichkeit zur Einnahme von gegengeschlechtlichen Hormonen, und das ist aus ethischen Gründen definitiv nicht zu rechtfertigen“, findet Korte.
„Ein Großteil der Kinder versöhnt sich wieder mit dem Geburtsgeschlecht.“ – Alexander Korte
Statt der Einnahme von Hormonen empfiehlt er eine genderkritische Psychotherapie. Das Ergebnis sei ausgangsoffen, es müsse jedoch die Festlegung sowohl auf Seiten des Kindes als auch auf Seiten der Eltern hinterfragt werden. „Ziel kann und muss es sein, einen Weg zu finden, wie der Mensch sein Glück finden kann. Aber nur in absoluten Ausnahmefällen, als Ultima Ratio, kommen Hormonbehandlungen und geschlechtsangleichende Operationen in Frage“, sagt Korte. „Bei denjenigen, für die es keinen anderen Ausweg gibt, wäre es vorteilig, frühzeitig zu intervenieren“, räumt er ein, „aber es gibt nicht die Glaskugel, die zeigt, wer von den Betroffenen irreversibel in der Vorstellung bleibt, nur in der anderen Rolle glücklich werden zu können.“
Schlüsselmoment
Von einer Vorstellung kann laut Andrea Ottmer keine Rede sein. Sie ist Mitgründerin und stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (DGTI). Der 1998 gegründete gemeinnützige Verein macht Lobbyarbeit und berät Transmenschen und deren Angehörige. Ursprünglich waren es sieben Berater, heute hat der Verein deutschlandweit mehr als 40 Beratungsstellen. Ottmer schildert, dass sie sich aus der Betroffenheit heraus engagiert. Wie Julana wuchs auch sie zunächst als Junge auf. „Gewusst, dass ich lieber ein Mädchen wäre, habe ich als Kind. Da habe ich Tagebücher geschrieben“, sagt sie. Herausgefunden, wie das Phänomen heißt, habe sie aber erst mit 19 Jahren.
Der Schlüsselmoment war bei Ottmer, ähnlich wie bei Julana, eine Fernsehsendung. „Mich geoutet und Hilfe gesucht habe ich aber erst zehn Jahre später, mit Ende 20“, erzählt die heute 53-Jährige. Damals habe es nur wenige Beratungsstellen gegeben. Anschließend begab sie sich in eine psychiatrische Therapie, änderte ihren Namen, ließ ihr Geschlecht operativ angleichen und ihren Personenstand ändern. „Vor allem die vielen Operationen waren alles andere als ein Spaziergang“, sagt Ottmer. Bis heute hat sie gesundheitliche Probleme, bereut habe sie ihre Entscheidung aber nie.
Vor der Pubertät erkannt
„Ein Transmädchen, das die männliche Pubertät nicht mitmacht, wird später nirgends auffallen und nicht anecken.“ – Andrea Ottmer
Weniger schwierig sei eine Angleichung, wenn die Transsexualität vor der Pubertät erkannt werde. „Ein Transmädchen, das die männliche Pubertät nicht mitmacht, wird später nirgends auffallen und nicht anecken“, sagt sie. Dass Ottmer die männliche Pubertät durchlebt hat, hört man an ihrer tiefen Stimme. „Bei Kindern fängt es mit elf bis zwölf Jahren an, kritisch zu werden“, erklärt sie, „wenn es sich da schon über zwei bis drei Jahre manifestiert hat, bin ich ganz klar für Pubertätsblocker, sobald die Pubertät losgeht.“ Eltern sollten natürlich keinen Einfluss ausüben, sondern dem Kind klarmachen, dass sie es lieben, egal, ob Junge oder Mädchen – auch wenn es sich noch einmal umentscheide, sagt Ottmer.
Julana wird voraussichtlich GNRH-Analoga nehmen, um die männliche Pubertät zu blocken. Seit ihrem Coming-out wird sie psychologisch und im Hinblick auf die nahende Pubertät von einem Endokrinologen begleitet. „Sonst würde sie einen seelischen Schaden davontragen – das können wir nicht riskieren“, sagt ihre Mutter, und Julana nickt.